Mythos Nibelungen

In der gegenwärtigen universitären Germanistik und hier insbesondere in der Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer steht die Epoche des Mittelalters nicht mehr unbedingt im Zentrum, sondern musste gegenüber der Gegenwartsgermanistik eher etwas zurückstehen. Insbesondere für das Feld der Heldenepik ist gegenüber Zeiten der nationalen und dann erst recht nationalistischen Indienstnahme des - weitgehend romantisch imaginierten - Mittelalters im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine entsprechende Tendenz zu beobachten. Diese Entwicklung hat natürlich ihre Gründe, die eben in der auf die jeweilige Gegenwart bezogenen Interpretation mittelalterlicher Stoffe und Motive und der daraus vermeintlich abzuleitenden Handlungsmuster liegen, so dass - nicht zuletzt eben angesichts des mediävistischen „Rückbaus“ - andere Felder der mittelalterlichen Literatur dann doch noch eher präferiert werden.

Gleichwohl ist das Interesse am Mittelalter allgemein gesehen immer noch gegeben und hat vermutlich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit „Mittelalter-Märkten“, „Ritterspielen“ etc. sogar wieder einen Aufschwung erfahren. Auch mittelalterliche Literatur bzw. literarische Motive bewirken, wenngleich nicht zuletzt in entsprechenden Adaptionen aktueller Art, eine bestimmte Neugier. Dieses Interesse gilt im Besonderen auch dem „Nibelungenlied“ bzw. der Nibelungen-Motivik, wie etwa die erfolgreiche Ausstellung zum Thema beweist; wobei weder im Kreis allgemein Interessierter noch gar in der Forschungs-Comunity diese Dichtung als „Nationalepos der Deutschen“ angesehen wird. Von wesentlichem Interesse für das sogenannte breitere Publikum ist etwa auch die Frage nach dem ominösen Rheingold, auf dessen Spuren sich in der jüngeren Vergangenheit etliche Hobbyforscher begeben haben - ohne allerdings fündig zu werden.

Joachim Heinzle, der in den vergangenen Jahren Relevantes zur Heldendichtung im Allgemeinen und zum Nibelungenlied veröffentlicht hat, legt mit dem „Mythos Nibelungen“ zunächst einmal eine Zusammenstellung wesentlicher Quellen und Rezeptionstexte vor, die den Zugang zum Epos selbst, insbesondere aber auch zu seiner Rezeptionsgeschichte auf kompakte Weise ermöglichen. Es wird also ein Überblick von den fassbaren schriftlichen bzw. bildnerischen Anfängen der Nibelungenüberlieferung bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts geboten.

Einbezogen sind für die Frühzeit dieser Tradition unter der Überschrift „Goldrausch und Drachenblut: Spuren der ältesten Überlieferung“ Ausschnitte aus dem „Alten Atlilied“, dem „Fafnirlied“, aber auch der „Völsunga Saga“ sowie Bilddokumente zum Steinkreuz von Kirk Andreas, bevor unter dem für das ganze Epos und seine Entwicklung bis zum Nibelungen-Burgundenuntergang vielleicht nicht ganz passgenauen Motto „Zwei Königskinder“ mehrere entscheidende Aventiuren des Nibelungenliedes selbst im mittelhochdeutschen Original sowie der neuhochdeutschen Übertragung zitiert werden.

Die weiteren Großkapitel folgen der Rezeption des Epos in der Neuzeit. So repräsentieren die „Homerischen Geister“ die Wiederentdeckung des Nibelungenliedes im 18. Jahrhundert, denen sich der „Klang aus deutschen Wäldern“ (Die Nationalisierung der Nibelungen), „Alte Götter - Neue Götter“ (Menschheitsmythen im nationalen Umfeld) sowie „Deutschland, hohe Siegerin“ (Die Nibelungen im Reich der Hohenzollern) anschließen. Hier werden sowohl der „Nibelungenlied-Entdecker“ Bodmer, als auch - für die späteren Adaptionen - der mittelalterlichen Dichtung Friedrich Freiherr von der Hagen, Felix Dahn, der vermutlich kaum mehr geläufige Eberhard Geibel, aber eben auch Heinrich Heine zitiert, so daß die Materialsammlung von den gewissermaßen „unschuldigen Anfängen“ einer nationalromantischen Selbstfindung bis zur deutlich national-imperialistisch ausgeprägten Adaption im Wilhelminismus reicht, wobei eben auch Brüche - siehe Heine - Berücksichtigung finden, mit denen zunächst gar nicht zu rechnen ist.

Mit „Treue und Verrat“ (Die Nibelungen, der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik) sowie „Kassandra“ (Die Nibelungen im Nationalsozialismus) werden Beispiele aus einer Phase der Rezeption vorgestellt, in der die Adaption des Epos als vermeintlich idealer Handlungsanweisung für das Ausleben der jeweiligen aggressiven Ideologien nicht nur dazu führte, dass sinnloser Massenmord und Selbstopferung als „volkhaft-völkisches“ Ideal mit einer 800 Jahre alten Dichtung begründet wurden, sondern eben auch dazu, dass das Epos durch eben diese Kontamination für die Generationen nach Ende des Zweiten Weltkrieges als - wenn überhaupt - lediglich schwer zu akzeptieren zu sein schien. Für eine gleichwohl fortdauernde Rezeptionsgeschichte legt Joachim Heinzle unter der Überschrift „Linksnibelungen, Rechtsnibelungen“ (Fortdauer des Mythos?) beredte Beispiel vor, die von Heiner Müller, aber auch von Paul Celan stammen, der vermutlich in einem solchen Kontext kaum erwartet worden wäre.

Dass die den Quellentexten vorangestellte knapp siebzig Seiten umfassende „Einleitung“ (deshalb in Anführungsstriche gesetzt, weil sie deutlich mehr als eine Einleitung im herkömmlichen Sinne ist), eine wesentliche Basis schafft, sei hier nur am Rande erwähnt.

Selbstverständlich ist etwa das ebenfalls von Joachim Heinzle zusammen mit Ute Obhof und Klaus Klein herausgegebene Werk „Die Nibelungen. Sage - Epos – Mythos“ deutlich umfangreicher, und es wäre wünschenswert, die (bzw. den) „Literaturhinweis(e) zur Nibelungenrezeption“ umfangreicher zu gestalten bzw. über die neuere Rezeption im engeren Sinne hinaus zu erweitern, gleichwohl tut das dem positiven Eindruck des Buches nur geringen Abbruch. Nicht nur für die „Generation Smartphone“ mit ihren tendenziell eher flüchtigen Rezeptionsgewohnheiten, sondern auch für Rezipientinnen und Rezipienten eher „klassischer“ Leseorientierung ist der „Mythos Nibelungen“ uneingeschränkt empfehlenswert. Und dies gilt nicht nur hinsichtlich einer Erstorientierung zum Thema, sondern auch, weil sich das Buch als ein auch für eine vertiefende Beschäftigung mit den Nibelungen wertvoller Begleiter erweist, der überdies - und auch das ist nicht zum Geringsten zu veranschlagen - auch noch das Buchbudget nur unwesentlich belastet.