Höhepunkte des mittelalterlichen Erzählens
Heldenlieder, Romane und Novellen in ihrem kulturellen Kontext

Auch wenn es mitunter trivial erscheinen mag, es ist gerade auch in Hinblick auf eine jüngere Generation altgermanistisch Interessierter und Engagierter ein nicht zu geringes Verdienst, auf den Umfang mittelalterlicher Erzählliteratur zu verweisen. Genau diesem Zweck dient der von Klaus Sauer, Gisela Seitschek sowie Bernhard Teuber herausgegebene Band, der – selbstverständlich nur unter den durch den Bandumfang bedingten Einschränkungen – sowohl was die chronologische als auch geographische Ebene angeht, mittelalterliche Erzähl-Motivik beleuchtet. Vielleicht macht bereits gerade das Titelbild, ein Ausschnitt eines Glasgemäldes von Barbara Thiel, das den Kampf des Heiligen Georg gegen den Drachen zeigt, den Anspruch des vorliegenden Bandes deutlich. Auf knapp vierhundert Seiten werden wesentliche Elemente verschiedener Großmotivkreise vor- und dargestellt, an deren Anfang konsequenterweise die lateinisch- bzw. griechischsprachige Überlieferung steht.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen, so weist die Einleitung aus, auf eine Ringvorlesung zurück, „die Hans Sauer und Bernhard Teuber vor einer Reihe von Semestern für das ZMR (Zentrum für Mittelalter- und Renaissancestudien) der LMU (Ludwig-Maximilians-Universität München) organisierten“ (S. XII). Allerdings ist diese Basis für die Drucklegung deutlich erweitert worden. Im Band sind prominente Texte byzantinischer, irischer, angelsächsischer, deutscher, französischer, italienischer und italischer Provenienz thematisiert. Hinzu kommen für das (west-)europäische Mittelalter „exotische“ Motive und Sagenstoffe aus Rußland und der Türkei. Während die Aufsätze zu diesen Texten auch Belege in der Originalsprache aufweisen, sind die japanische Genji-Erzählung und die Novellen der chinesischen Tang-Dynastie lediglich deskriptiv wiedergegeben; allerdings steht zu vermuten, daß – abgesehen vom mittlerweile vielleicht gar nicht mehr so großen Aufwand des Druckbildes – auch polyglotte Mediävisten wohl eher nicht in den ostasiatischen Sprachen so bewandert wären, um aus diesem Fehlen ein bemerkenswertes Manko abzuleiten.

Bereits die einleitenden Zeilen der drei Herausgeber machen deutlich, in welchem Maße sich auch Rezeptionsstränge gebildet haben, deren Hinterfragen nicht immer leicht fällt. Wenn der Umstand benannt wird, dass das „Rolandslied“ kein Lied sei, was selbstverständlich auch für das „Nibelungenlied“ gilt, sieht das auf den ersten Blick reichlich trivial aus, gibt aber gleichzeitig Anlaß zum Hinterfragen liebgewordener Rezeptions- und Zuordnungsmuster.

Derlei bieten auch die verschiedenen Beiträge des Buches, die – wie erwähnt – ein weites räumliches wie chronologisches Feld umfassen. Bereits der „Resonanzraum der klassischen Sprachen“ übertitelte erste Hauptteil weist mit dem „Ruodlieb-Roman“ (Benedikt Konrad Vollmann) und der „Geschichte von Diogenes Akrites“ (Albrecht Berger) in Bereiche, die von der gegenwärtigen Germanistik eher randständig thematisiert werden, wenn sie nicht gar vollkommen unbekannt sind. In der „keltischen und germanischen Welt“ wird zunächst mit dem „Rinderraub von Cúailnge“ (Peter Shrijver) die irische (Sagen-)Welt „zwischen Mittelalter und Eisenzeit“ in den Blick gebracht. Diese archaisch wirkenden Erzählmuster und handlungs- bzw- inhalttragenden „patterns“ dürften dem kontinentalmediävistischen Publikum wohl noch weniger bekannt sein, als das von Mitherausgeber Wolfgang Sauer vorgestellte „Beowolf-Epos“. Dies gilt allerdings wohl kaum für den Beitrag zum „Nibelungenlied“, in dem Jan-Dirk Müller historische und literaturgeschichtliche Fakten zusammenfasst. Der anscheinend an Müllers Monographie zum „Nibelungenlied“ orientierte Beitrag „Mechanik des Untergangs“ (Wilhelm Heizmann) befasst sich mit der altisländischen Überlieferung zu Gisli Súrsson und stößt damit wieder mehr in die europäische Erzählperipherie vor, die gleichwohl auf eine „heroische Tradition“ vor- oder nebenchristlicher Prägung verweist.

Definitiv christlich dominiert sind die ausgewählten „Höhepunkte“ der romanischen Welt. Das von Friedrich Wolfzettel vorgestellte Rolandslied gehört in gewisser Hinsicht ebenso eindeutig in den Kontext christlicher Selbstdefinition, wie das für die „Göttliche Komödie“ (Mitherausgeberin Gisela Seitschek) der Fall ist. Weniger explizit und ausschließlich gilt das für den Bereich des arthurischen Romans des Chrétien de Troyes, den Herausgeber Bernhard Teuber unter dem Aspekt der ritterlichen Initiation in den Blick nimmt. Für den zentraleuropäischen Wahrnehmungshorizont wohl weniger prominent, erweisen sich die „Spielmannsepik und Moraldidaktik des Acipreste de Hita“ (Michael Rössner) als interessante Perspektive auf die erzählerische Tradition der Iberischen Halbinsel.

Unter der zusammenfassenden Überschrift „Stadtkultur und Rahmenerzählung im 15. Jahrhundert“ werden von Winfried Wehrle „Boccaccios Decameron oder die Kunst des Lebens“ sowie – als angelsächsisches Pendant gewissermaßen – „Geoffrey Chaucers Canterbury Tales“ (nochmals Hans Sauer) als aussagekräftige Beispiele für die spätmittelalterlich-urbane (Erzähl-)Kultur in den Fokus gestellt. Damit ist der bislang dominierende, an der Geographie angelegte Orientierungsrahmen kurzzeitig aufgelöst, um dann mit dem europäischen Osten bzw. der europäischen Peripherie, „Russland und Türkei“, wieder aktiviert zu werden. Mit dem „Igorlied“ (Aage Hansen-Löve) sowie dem „Buch von Dede Korkut“ (Karl Reichl) sind in der Tat entlegenere (Kenntnis-)Bereiche angesprochen, deren Exotik dann allerdings mit den bereits angesprochenen tangzeitlichen Novellen (Roland Altenburger) bzw. den „Genji monogatari“ (Jörg Quenzer) deutlich übertroffen wird.

Primär sind diese „Höhepunkte“ natürlich eine Art Nachschlagewerk, dessen einzelne Beiträge durch die fundierte Literatur einen Leitfaden durch mittelalterliches Erzählen im kulturellen und durchaus auch interkulturellen Kontext bieten. Sehr positiv ins Auge fällt der von Vera Falck bearbeitete, knapp fünfzehn Seiten umfassende, Kartenteil, der eines der nicht unwesentlichen Defizite gerade germanistisch-mediävistischer Veröffentlichungen aufgreift bzw. beseitigt; beim puren Lesen stehen die Texte oft genug im Raum, wobei sich die Frage stellt, in welchem. Dabei sind geographisch-exakte Karten ebenso aufgenommen, wie etwa die fiktive Nibelungenreise oder auch die Ausgestaltung der verschiedenen Ebenen des Himmels aus Dantes „Göttlicher Komödie“. Bereits allein dafür lohnt es sich, das Buch anzuschaffen. Ebenso hilfreich ist das fünfunddreißig Seiten umfassende Register, das entgegen einer immer öfter zu beobachtenden Mode, vor allem Verfassernamen oder Werktitel aufzulisten auch Sachbegriffe nachweist. Damit ist angesichts des weit gestreuten Inhalts eine über das Inhaltsverzeichnis hinausweisende schnelle Orientierung möglich.

Nicht nur für „Einsteiger“, sondern auch für fortgeschrittene Rezipientinnen und Rezipienten sind die „Höhepunkte des mittelalterlichen Erzählens“ uneingeschränkt empfehlenswert. Denn der vorliegende Band ist mehr als eine Art von „Erstorientierung“ zum Themenfeld, sondern auch für eine vertiefende und weitergehende Beschäftigung mit diesen „Höhepunkten“ ein wertvoller Begleiter. Insgesamt betrachtet geht – auch das ist gerade für Studierende nicht unerheblich – das Preis-Leistungs-Verhältnis in Ordnung. Vorliegender Band ist zwar keine „Discount-Erwerbung“, lohnt letztlich aber wegen der Nachhaltigkeit seiner Verwendungsmöglichkeiten dennoch die Anschaffung.