"Episches" Erzählen
Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit

Jan Dirk Müller, der nicht zuletzt durch seine wegweisenden Untersuchungen zum ‚Nibelungenlied‘ bekannt ist, widmet sich in seinem aktuellen Buch einem Thema, das – zumindest dann, wenn der Haupttitel in den Blick genommen wird – wie die Wiederholung der Wiederholung erscheinen mag. Weniger aufmerksame Leserinnen und Leser werden, wenn sie das Buch lediglich über diesen Titel zu beurteilen suchen, vermutlich in ‚statu potentialis‘ verharren. Damit jedoch würde ihnen ein interessanter und lesenswerter Quer- wie auch Längsschnitt zur volkssprachlichen Literaturgeschichte entgehen.

Im Grunde, das führt Jan-Dirk Müller gleich in seiner einleitenden ‚Problemskizze‘ aus, ist der Komplex des ‚epischen Erzählens‘ aus, ist eben die Bezeichnung ‚episches Erzählen‘ ein Pleonasmus, da letzthin jedes Erzählen den Aspekt des Epischen mitumfasse. Wäre das jedoch alles, hätte der Autor an dieser Stelle aufhören können bzw. bestenfalls einen Essay, nicht jedoch ein Buch mit deutlich über vierhundert Seiten geschrieben. Um eben dieses Besondere herauszuarbeiten greift Müller auf das Mittel des kongenialen Vergleichs zwischen den Anfängen der überlieferten Erzählepik und einem zumindest relativ zeitnahen Beispiel zurück; er nimmt einerseits William Faulkners ‚Flags in the dust‘, andererseits nichts Geringeres als das ‚Gilgamesch-Epos‘ in den Fokus, um Merkmale des epischen Erzählens herauszuarbeiten und zu definieren. Das ist so überraschend wie erfrischend, vor allem jedoch scheint mir dieses gemessen am Standard unorthodoxe Vorgehen äußerst zielführend zu sein.

Mit einer weiten Perspektive also, die von den Anfängen bis in die Gegenwartsliteratur oder zumindest an deren Schwelle heranreicht werden, und das ist meines Erachtens gerade auch angesichts der Rückzugspositionen, auf die die universitäre Mediävistik vornehmlich auch im Kontext der Staatsexamensstudiengänge gedrängt wird, insofern für das Fach besonders relevant, als damit erkennbar ist, in welch hohem Maße epische Erzählkonstanten mit mehr oder minder ausgeprägten Variationen und Abzweigen aktuell waren und sind.

Selbstverständlich läßt der Verfasser es nicht mit dem ‚Gilgamesch-Epos‘ bewenden, nimmt aber – wie bereits erwähnt – diesen Text und als Kontrafaktur eben Faulkner zur Basis für eine Definition des epischen Erzählens bzw. der Darstellung der entsprechenden Parameter. Hier werden allgemeine stilistische Aspekte, aber eben auch die literaturgeschichtlichen Zuordnungen dargelegt – und immer wieder nicht nur auf ihre Tauglichkeit hin überprüft, sondern zumindest in ihrer Absolutheit auch in Frage gestellt. Jan Dirk Müller beleuchtet das Phänomen der Epik aus den verschiedensten Blickwinkeln, wobei einerseits die Bezugnahme auf ‚traditionelle‘ Darstellungen und Zugangswege erkennbar sind, die allerdings ‚gegen den Strich gebürstet‘ werden.

In gebotener Kürze, allerdings konzentriert und damit ‚anwendungstauglich‘ wird der ‚epische Blick‘ auf verschiedene Texte der mittelalterlichen Überlieferungskultur gelenkt. Natürlich wird etwa das ‚Hildebrandlied‘ in den Fokus gestellt – und unter verschiedenen Blickwinkeln mehrfach beleuchtet. Aber auch – und das mag angesichts der allgemeinen Vorstellung von den Inhalten, die das Feld der ‚Epik‘ transportiert überraschen – das geheimnisvolle ‚Muspilli‘ wird nicht nur einmal in den Blick genommen. Allgemein, und das klang ja bereits bei den Endpunkten der ‚Klammer – Gilgamesch und Faulkner – an, zerlegt Jan Dirk Müller den Begriff des Epischen, setzt ihn aber mit faszinierenden Perspektivwechseln und unter Einbeziehung auch zunächst überraschender Akzente wieder zusammen.

Selbstverständlich bleibt der Autor seinem Untertitel treu und räumt die ‚frühe volkssprachliche Schriftlichkeit‘, d.h. mittelalterlichen Texten, einen adäquaten Raum ein. Gerade die Exkurse in die Zeit (bzw. aus der des Mittelalters heraus) haben auf den ersten Blick etwas Provokantes, da vollkommen Unerwartetes an sich. Es geht Jan Dirk Müller allerdings natürlich nicht um die Provokation an sich, und es sind auch mehr als ‚Hallo-Wach-Effekte‘ bzw. Aufmerksamkeitsmarker. Wie bereits angesprochen ist es wesentlich, basale Patterns epischen Erzählens auch dort freizulegen, wo sie entweder nicht vermutet werden oder eine Anbindung an die germanistische Mediävistik nur bedingt auf der Hand liegt.

Die Diffizilität und Vielschichtigkeit des ‚epischen Erzählens‘ ist es also, um die es Jan Dir Müller zu tun ist. Anhand der verschiedenen Texte, deren Umfang und Fülle überrascht, wird das vorliegende Buch quasi selbstverständlich zumindest zu einem grundlegenden Einstieg in das Feld dieser Gattungsform, die offenbar eben mehr als eine Gattungsform im konventionellen literaturgeschichtlichen Sinne darstellt. Neben heldischer und höfischer Epik wird – wie bereits am Beispiel des ‚Muspilli‘ erwähnt – auch biblische bzw. theologische Überlieferung zum Thema gemacht. Dabei wird deutlich, dass nicht in allen Texten der Katalog epischer Parameter in gleichem Maße vertreten ist, auch hier werden Erklärungen gegeben und Zugänge ermöglicht, die zu einem fortdauernden Gebrauch des Buches herausfordern.

In diesen Zusammenhang gehört selbstverständlich auch das umfangreiche Literaturverzeichnis, das auf über zwanzig Seiten nicht nur die behandelten literarischen Texte belegt, sondern zahlreich Sekundärliteratur nachweist, die zur weiteren Beschäftigung mit dem ‚literarischen Erzählen‘ unabdingbar erscheint. Es erscheint mir wie eine – allerdings, und das ist nicht das Wenigste – ‚offener Reiseplan‘ zu sein, der durch die Definition der entsprechenden Parameter und deren textliche Gegenbelege zu einer fortdauernden und intensiven Auseinandersetzung mit dem ‚Epischen‘, so unterschiedlich seine Ausformungen auch sein mögen, anregt.

Nicht nur für ‚Einsteiger‘, sondern auch für fortgeschrittene Rezipientinnen und Rezipienten sind daher die ‚Höhepunkte des mittelalterlichen Erzählens‘ uneingeschränkt empfehlenswert. Wie bereits mehrfach angesprochen, ist der vorliegende Band deutlich mehr als eine ‚Erstorientierung‘ zum Themenbereich, sondern auch für eine vertiefende und weitergehende Beschäftigung mit diesen ‚Höhepunkten‘ ein wertvoller Begleiter. Wer die umfangreiche Literatur aus der Feder Jan Dirk Müllers kennt, wird nicht enttäuscht werden, wer über das ‚epische Erzählen‘ erstmals dessen Verfasser kennenlernt, mit Sicherheit auf das vorhergehende Œvre zugreifen. Insgesamt betrachtet geht – auch das ist nicht zuletzt für Studierende von Relevanz – das Preis-Leistungs-Verhältnis in Ordnung, zumal vorliegender Band wegen der Nachhaltigkeit seiner Verwendungsmöglichkeiten die Anschaffung lohnenswert macht.