Literarische Schöpfung im Mittelalter

Der Komplex des Schöpferischen gilt in unserer kulturellen Tradition als wesentliches Kriterium geistiger wie moralischer Bewertung. Dies gilt bereits für das Feld der Kunst, mehr noch aber für das der Wissenschaft – die Affäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg ist nur ein prominentes Beispiel für eine entsprechende Wertung.

In diesem Zusammenhang wird oft übersehen, dass es durchaus auch andere Möglichkeiten zur Akzeptanz und Bewertung von Leistung gibt, die unserer gewohnten Sicht diametral widersprechen. Dementsprechend wird etwa der Zeitraum des europäischen Mittelalters oft zwar durchaus zutreffend, aber insgesamt eben zu vereinfachend als eine der dem Eigenschöpferischen abholden Phase künstlerisch-literarischer Produktion gesehen. Ob dies wirklich oder vielleicht nur bedingt zutrifft, wird in der vorliegenden Publikation untersucht. Christian Kiening stellt demgemäß unter Bezug auf Blumenbergs Verdikt aus den fünfziger Jahren die Kardinalfrage: „Stand die Idee menschlichen Schöpfertums im Mittelalter tatsächlich unter dem Verdikt einer Theologie, die streng zwischen göttlicher Schöpfermacht und menschlicher Nachahmungsfähigkeit unterschied?“ Und wie bei vielen rhetorischen Fragen ist auch hier die Antwort nicht eindeutig und endgültig.

Auf Grundlage von Textquellen aus dem Hohen bis zum Späten Mittelalter, die sich mit der Erschaffung der Welt befassen, untersucht der Autor dieses Phänomen religiöser literarischer Tradierung im Spannungsfeld zwischen göttlicher Schöpfung und menschlicher Nachschöpfung und trifft mit dieser Thematik ebenfalls zumindest indirekt den Nerv der Gegenwart, in der heftige ethische Diskussionen über Klonierung oder auch die Frage künstlich erzeugter ‚Urknall-Szenarien‘ stattfinden.

Zurück aber zum Mittelalter und damit zu dem vorliegenden Buch. In drei Hauptkapiteln (Schöpfungszeit, Anfangsgestaltung, Wortkunst), denen eine Einleitung (Kreative Spielräume) voran- bzw. ein Ausblick (Göttliche Autorschaft) nachgestellt sind, führt der Autor in die Thematik ein. Keineswegs nur auf biblisch-kirchlichen Texten basierend, entwickelt Kiening ein Bild des schöpferischen Menschen im Mittelalter, der durch die göttliche Ur-Schöpfung Bedingte kann demnach gleichwohl eigenschöpferisch tätig werden. Dabei wir der Rahmen weit gespannt. So sind etwa Augustinus und seiner Interpretation der göttlichen Zeit einige aufschlussreiche Seiten gewidmet, bevor Zeitadaptionen des zehnten Jahrhunderts und dann der folgenden Abschnitte des Mittelalters diskutiert werden. Natürlich wird damit die Beschränkung auf den übersichtlichen Zeitraum vom Hoch- zum Spätmittel­alter überschritten, allerdings ist das für das Verständnis in Kienings Argumentation auch notwendig.

Der im Rahmen der Themendarstellung genannte Bezug auf die Zeit des Hochmittelalters erscheint insofern schlüssig, da hier in wesentlich deutlicherem Maße eigenständige Aspekte dichterischer Schöpfung fassbar werden, die über die Wertung als bloße Nachahmung geoffenbarter Schriftlichkeit verstanden werden kann. Und womöglich wenig erstaunlich, es spielen offenbar auch technologische Entwicklungen eine Rolle, und wenn Heinrich von Meißen (Heinrich Frauenlob) mit einer Analogie zwischen Dichtkunst und Architektur zitiert wird, entspricht dies durchaus auch einem veränderten Menschenbild in dieser Zeit. Dies ist aber nur ein argumentativer Mosaikstein der bei der Vor- und Darstellung einer kontinuierlichen, aber nicht unbedingt linearen geistigen Entwicklung, von Relevanz ist.

Auch im dritten Hauptteil, der ‚Wortkunst‘, wird über die Diskussion des ‚Logos‘-Begriffs die zeitliche Dimension gesprengt. Durch die Handhabung etwa von Rhetorik und Syntax, so Kiening, werden die Grenzen zwischen der ur-schöpferischen Kraft Gottes und der Kreativität der Menschen zwar nicht verwischt, aber doch bis zu einem gewissen Grade permeabel. Auch hier vermag der Autor komplexe Gegebenheiten in anschaulicher Weise darzustellen bzw. entsprechende Überlegungen nachvollziehbar zu machen. Aspekte verschiedener Übergänge und Wechselwirkungen, die im gegenwärtigen ‚Standard-Modell‘ nur bedingt greifbar sind, werden verdeutlicht, und wenn vielleicht auch nicht jede Schlussfolgerung Kienings stringent ist, macht es in jedem Fall (Lese-)Vergnügen, seinen Ausführungen zu folgen. Auch im abschließenden Ausblick ist das der Fall, so dass die Lektüre auch für primär nicht unbedingt an Fragen literarischer oder allgemeinerer Schöpfung Interessierte lohnenswert ist.

Einige Worte zum Schluss: Auf ansprechende Weise stellt Kiening die Kreativität mittelalterlicher Menschen dar, die trotz ihres heute zumindest in unserer Hemisphäre kaum mehr vorstellbaren Gottesbezuges Freiräume zu entwickeln vermochten und damit die Grundlage für spätere geistig-philosophische Wendeepochen gelegt haben. Die Ausstattung ist mehr als angemessen. Sieben Abbildungen etwa, die im Gegensatz zum Schutzumschlag leider nur in schwarz-weiß gehalten sind, ergänzen die textbezogenen Ausführungen des Verfassers auf im wahrsten Sinne des Wortes anschauliche Weise. Auch hier gibt es übrigens einen zeitlichen Ausreißer: ein Blatt das im irisch-angelsächsischen Stil gehaltenen Lindisfarne-Psalters aus dem späten sechsten bzw. frühen siebten Jahrhundert ist gleichwohl eine Bereicherung.

Das Buch ist im ‚Paperback-Format‘ gehalten, aber fest gebunden und weicht somit erfreulich von in ähnlichem Format gehaltenen Publikationen ab. In Zeiten computerbasierter Textverarbeitung überraschend ist der Umstand, dass statt Fußnoten mit Anmerkungen gearbeitet wird. Eher üblich und doch ein wenig schade dagegen ist der Verzicht auf eine separate Bibliographie, hier muss der Blick in den Anmerkungsapparat genügen. Gleichwohl ist das keine Zumutung an den Kreis der Leserinnen und Leser, zumal über das abschließende knappe Autorenregister zumindest Primärquellen schnell aufzufinden sind. Es ist immer ein wenig heikel, bei Büchern von einem Preis-Leistungs-Verhältnis zu sprechen, hier soll das allerdings trotzdem geschehen. Das lesenswerte Buch erfreut – wie bereits erwähnt – allein schon durch seine Ausstattung; dies gilt um so mehr, als ein Preis von knapp 20 Euro mittlerweile auch für Taschenbücher durchaus nicht mehr unüblich ist.