Frühmittelalterliche Glossen
Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit

Vorliegende Publikation ist eine überarbeitete Fassung der Dissertation des Verfassers, die von der Ludwig Maximilian-Universität in München angenommen wurde. Erklärtes Ziel war es, die verschiedenen Ansätze der Glossen-Forschung gewissermaßen in einen Meta-Kontext zu stellen und damit sicherlich auch den Zugangsweg zur Beschäftigung mit (früh-) mittelalterlichen Glossen strukturell überschaubarer zu gestalten. Diesen Vorsatz verfolgt Markus Schiegg auf den knapp vierhundert Seiten seiner Untersuchung – darunter eine knapp vierzig Seiten umfassende Bibliographie bzw. ein Handschriftenverzeichnis – recht erfolgreich.

In der Einleitung resp. ‚Problemstellung‘ heißt es dementsprechend: „Die vorliegende Arbeit liefert einen funktional-kontextuellen Beitrag zur germanistischen Glossenforschung. Sie soll tiefgreifendere Einblicke in Formen, Funktionen und Kontexte mittelalterlicher Schriftlichkeit erlauben, als dies mit den bisherigen, meist auf Editionsarbeit oder rein sprachstrukturelle Erkenntnisinteressen beschränkten Untersuchungen möglich war.“ Es ist in jedem Falle verdienstvoll, in einer durch die Konzentration auf die Gegenwartslinguistik geprägten Phase der germanistischen Sprachwissenschaft den diachronisch-sprachwissenschaftlichen Aspekt in den Fokus zu stellen. Dabei werden die sprachgeschichtlichen Phänomene – hier eben die frühmittelalterlichen Glossen – nicht als isoliertes Phänomen betrachtet, sondern in ihren historischen Kontext eingebettet, was insbesondere für die jüngere germanistische Forschung so nicht unbedingt der Fall ist.

Folgerichtig wird, nachdem im ersten Großabschnitt die Problemstellung vorgestellt und die Vorgehensweise erörtert wird, wobei hier insbesondere die ‚definitorischen Vorklärungen eines funktionalen Glossenbegriffs‘ als für das weitere Vorgehen des Verfassers wesentlich sind, zunächst medienorientiert die „Glossen im Überlieferungskontext“ vorgestellt und die sprachliche Situation im westlichen sowie östlichen Frankenreich aufgezeigt – womit eben aufgrund der im Westen deutlich ausgeprägteren, weil durch die historische Entwicklung vorgegebenen Bilingualität ein wesentlicher Grund für das Phänomen der Glossen geliefert ist, der selbstverständlich für die Erklärung dieser ‚Textart‘ als Ganzes nicht ausreicht, da Glossen auch in ostfränkischer Überlieferung vorkommen; der klösterliche Kontext eines Schriftspracherwerbs wird in diesem Zusammenhang von Schiegg noch einmal verdeutlicht.

In diesem Zusammenhang werden unter Hauptpunkt 3 eben auch ‚textlinguistische Fundierungen‘ erörtert bzw. die Frage nach der Positionierung von Glossen als ‚Texte, Textsorten und Diskurstraditionen‘ gestellt. Unter Blick auf die unterschiedlichen Forschungstraditionen verweist Markus Schiegg dezidiert auf einen über einen grundsätzlich-formalen Ansatz hinausweisenden Aspekt der Textbegriffspragmatik, die zwar einerseits als weniger dezidiert erscheinen mag, andererseits jedoch den unschätzbaren Vorteil der Anwendbarkeit auf eben jene knappen ‚Texte‘ ermöglicht, die sich aufgrund etwa ihres beschränkten Umfangs ansonsten einer systematischen Einordnung durch textlinguistische Definitionen entziehen. Diese Erweiterung erscheint sinnvoll, um den sprachwissenschaftlichen Umgang mit Glossen in zielführender Weise zu ermöglichen.

In der Folge werden verschiedene Aspekte der Textualität in drei großen Kapiteln (Kotextualität, Paratextualität sowie Kontextualität) zum Thema gemacht. Als erste Erweiterung gewissermaßen ist der Schwerpunkt zur ‚Dimension A der Textualität – Kotextualität‘ anzusehen, in dem Aspekte der Positionierung der Glossen, aber auch überlieferungsrelevante Komplexe wie etwa die Frage nach der Normalgraphie oder Geheimschrift angesprochen werden

All dies diente in gewisser Hinsicht zur Vorbereitung auf die knapp 130 Seiten umfassende Untersuchung zur Textualität der Handschrift 6 aus den Beständen des Bistums Augsburg. Hier nun werden die zuvor theoretisch ‚abgearbeiteten‘ Paradigma auf die tatsächlich überlieferten Glossen dieser Handschrift angewendet. Hier sind insbesondere die Tabellen etwa zu den in dieser Handschrift erfassten Neumen, aber eben auch fotodokumentarische Abbildungen der untersuchten Textpassagen hervorzuheben, die es – nicht ausschließlich, aber insbesondere für mit der Textwirklichkeit nicht edierter bzw. transkribierter Quellen Ungeübte – im Wortsinnen anschaulich macht, wie jene ‚Randprodukte‘ mittelalterlicher Textproduktion ‚funktioniert‘ haben.

Im Rahmen der Kontextualität der Glossen wird daher bereits vor der Beschäftigung mit der eigentlichen Textquelle dezidiert auf deren Praktikabilität abgehoben, die eben auf den – zumindest in früheren Forschungstraditionen immer wieder berufenen – ‚Sitz im Leben‘ verweist. Im vorliegenden Fall ist es der klösterliche Unterricht, dem eine fundamentale Bedeutung zukommt. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang, so scheint mir, der Verweis auf die Leistungen Notkers.  So heißt es auf Seite 141: „Notkers Bearbeitungen haben das Potenzial, in unterschiedlichen Lernumgebungen eingesetzt zu werden. Die unterschiedlichen Kommentare waren sicherlich im Selbststudium nutzbar.“ Damit wird der Blick auf die Funktion der Glossierungen gelenkt, die es nicht zuletzt heutigen Studierenden möglich machen, eine Verbindung zur eigenen, dann aber vermutlich eher schulisch geprägten Lernerfahrung herzustellen; das System der Glossierung bestimmt auch heute noch den Fremdsprachenerwerb in nicht unwesentlichem Maße.

Die Paradigmata der theoretischen Beschäftigung mit dem Phänomen der Glossen wird – wie bereits erwähnt  in Hauptkapitel 7 anhand der Handschrift 6 des Augsburger Bistumsarchivs anhand der Praxis, d.h. eben dem überlieferten Text, angewendet. Hier werden, und das macht sicherlich eine der Qualitäten in Markus Schieggs Untersuchung aus, unter Rückgriff auch auf ältere Forschungen genau die Beispiele dargestellt und erläutert, die es ermöglichen helfen, die Glossentheorie auf die Praxis eigener Beschäftigung mit dieser literarischen ‚Kleinstform‘ anzuwenden.

Die Darlegung von Ligaturen und anderen in den meisten Druckausgaben häufig nicht oder nur bedingt kenntlich gemachten Sonderdarstellungen bietet hier das Fundament, nichtedierte Glossentexte zu erschließen. Die bereits erwähnten Abbildungen tun das ihre, um einen solchen Zugang zu ermöglichen. Dieser Anwendungsaspekt dürfte für diejenigen, die sich intensiver und über den in universitären Seminaren gegebenen Standard hinaus mit Glossen zu beschäftigen gewillt sind, eine wertvolle Unterstützung darstellen.

Insgesamt gesehen handelt es sich um eine fundierte Publikation, die einerseits, das wurde ja bereits mehrfach betont, die Möglichkeit zum intensiveren Einstieg in das Themenfeld der frühmittelalterlichen Glossen bietet, aber durchaus auch zu einer vertiefenden Beschäftigung geeignet und damit einer Empfehlung wert ist.