Durchs irre Germanistan
Notizen aus der Ampel-Republik

Für ein „Erbarmen mit den Deutschen“, so ein älterer Buchtitel, hat sich Henryk M. Broder schon vor Jahrzehnten ausgesprochen. Nach den wechselvollen Schröder-Jahren, Angela Merkels bleierner Regierungszeit und rechtzeitig zur Ampel-Halbzeitpause lädt er nunmehr gemeinsam mit Reinhard Mohr, früherer Pflasterstrand-Schreiber, zum Streifzug Durchs irre Germanistan ein. Aktuelles aus deutschem Innenleben wird hier thematisch gebündelt in 59 bissigen Glossen abgehandelt. Was dem Deutschlandkritiker Rolf Winter in den letzten Amtsjahren von Helmut Kohl noch vornehm als „Die politische Kultur der Bundesrepublik“ begegnete, ist knapp drei Jahrzehnte später zum grotesken nationalen Politschauspiel mit Krankheitswert verkommen.

Das germanische Irre zeigt sich für Broder und Mohr hauptsächlich aufgrund von Aussagen und politischem Wirken der aktuellen Prominenz aus dem Kabinett Scholz (Habeck, Lauterbach, Geywitz, Faeser, Paus und Lemke). Aber auch Deutschlands höchster Repräsentant, bei dem man „nichts erwarten kann, aber mit allem rechnen muss“ (S. 72), steht nicht abseits. Broders und Mohrs Germanistan, das „beste Deutschland, das es je gegeben hat“, geht es nach der Einschätzung des Berliner Schlossherrn, dessen Wahl ins höchste Staatsamt „auch etwas mit dem Fachkräftemangel in Deutschland zu tun“ hat (S. 76), zeichnet sich im ersten von drei Kapiteln durch „Schöne Illusionen oder Die Realitätsblindheit der Bullerbü-Republik“ aus (S. 15-84). Illusionen über besseren gesellschaftlichen Zusammenhalt werden durch Schlagworte wie „Wertschätzung“ und „Respekt“ gefördert und politisch wie medial oft von Leuten verbreitet, „die selbst vor nichts Respekt haben“ (S. 21). Doch der Klang solcher Hochwertworte wird rasch durch dröges Politiker- und Juristendeutsch wie „'Klimaanpassungsgesetz', die 'Massenzuwanderungsrichtlinie' und das 'Demokratiefördergesetz'“ übertönt (S. 23). Reinstes Bullerbü ist bereits auf der Internetseite des Bundesfamilienministeriums verwirklicht, wo im „Regenbogenportal“ ein Flyer für trans- und intergeschlechtliche Kinder gutes Lebensgefühl verbreiten will, da „man sich bei der Geschlechtszugehörigkeit nicht festlegen muss. Wie im Swingerklub: alles kann, nichts muss“ (S. 40). Bullerbü zeigt sich im Aufstellen von Sitzmöbeln im öffentlichen Verkehrsraum, eine Art „Holzspielzeug für Riesenbabys, das als rasch verwitterndes Straßenmöbel auf den Asphalt gewuchtet wird“ (S. 55), so geschehen im Berliner Epizentrum der Verkehrswende-Republik. Highlights der Peinlichkeit wie beispielsweise „Angela Merkels XXXL- Brünnhilde-Dekolleté beim Besuch der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth“, die den „offenen Hemdkragen von Olaf Scholz“ weit in den Schatten stellt (S. 67), finden im ersten Kapitel ebenso Erwähnung wie die Kathederblüten aus dem „Inner Circle der grünen Habeck-Family im Wirtschaftsministerium“ (S. 82).

Im zweiten Kapitel geht es um „Moralismus als neue Gratis-Tugend – die gute Absicht zählt“ (S. 87-145). Doch an Tugenden einfach nur erinnern war einmal, sie werden nunmehr „auf allen Kanälen, bei jeder Gelegenheit, flächendeckend, ausnahmslos und unentrinnbar“ (S. 101) umgesetzt, geht es doch um nicht weniger als die gesellschaftliche, religiöse und kulturelle „Vielfalt – das neue Mantra einer Ersatzreligion“ (S. 101-103). Als conditio sine qua non erweist sich dabei das Mitmachen: “Wer abseits steht, macht sich verdächtig, erst recht all diejenigen, die Vielfalt mit Meinungsvielfalt verwechseln“ (S. 101). Ersatzreligion im besten Deutschland aller Zeiten ist auch der gelebte Pazifismus, der sich in Ostermärschen als „Teil der deutschen Folklore“ (S. 114) zeigt und den US-amerikanischen Unruheherd als Grundübel allen Weltgeschehens ansieht, „während Russland, China, Iran und Nordkorea praktisch nicht existieren, und wenn, dann als Opfer“ (S. 115). Opfer sind zunehmend auch Juden in Deutschland und sei es nur, dass sie verunglückte Grußworte von Familienministerin Lisa Paus und Claudia Roth auf dem vom Zentralrat der Juden in Deutschland initiierten Jewrovision-Contest anhören müssen (S. 135-139).

Das finale Kapitel „Die deutsche Apokalypseverliebtheit oder Untergang ist immer“ (S. 147-216) wartet mit Berichten über städtische Vermüllung auf, wie sie „im achtsamen, linksgrün- gutbürgerlichen Prenzlauer Berg“ (S. 149) stattfindet. Doch Apokalypse verwirklicht sich bereits im Tatbestand der „kulturellen Aneignung“, der für Antidiskriminierungsbeauftragte schon erfüllt ist, wenn im Rahmen der Bundesgartenschau 2023 deutsche Senioren als die „Repräsentant*innen einer eurozentristischen White Supremacy Culture“ (S. 157) es wagen, sich mit Sombreros, Ponchos und japanischen Kimonos für einen kurzen Kostüm-Auftritt auszustatten. Derlei Grobheiten gegenüber interkultureller Sensibilität, die vom BUGA-Veranstalter „kultursensibel modifiziert“ (S. 157), sprich: teilweise unterbunden wurden, würden im bunten Deutschland im Falle von indonesischen Muslimen, die einen Weihnachtsbaum schmücken und Senegalesinnen, die Schwarzwälder Bollenhüte tragen, wahrscheinlich nicht geahndet. Auch „Japaner, die in Jankerl und Lederhose bayerisches Bier trinken und dabei Jürgen Drews' 'Ein Bett im Kornfeld' vor sich hin summen!“ (S. 158) bräuchten im weltoffenen Deutschland Antidiskriminisrungsbeauftragte nicht zu fürchten. Untergang bedeutet, zumindest symbolisch, wenn bei DFB-Kickern während der Klänge von Haydn die Zeilen von Fallersleben „weggenuschelt“ (S. 165) werden und Luisas Asphaltkleber mit der „Diktion propagandistischer Politprosa junger FDJ-Pioniere“ (S. 177) vor der Klimahölle warnen. Untergang, wie ihn schon vor hundert Jahren Oswald Spengler diagnostizierte, wird durch das Gespann Broder und Mohr gerade mit Nennung des Nebensächlichen deutlich, etwa wenn „Bloß keine Blumen zum Muttertag!“ (S. 184-186) ausgerechnet von der Katholischen Kirche in Deutschland gefordert wird oder eine nur mit Löffel bewaffnete junge Generation, die das All-in- one-Essen bevorzugt, den Deutschen Spargel als „'Gemüse der sozialen Ungleichheit'“ diffamiert (S. 187). Untergangsverliebtheit zeigt sich in Deutschland auch in der Bekämpfung des Humors, die von der „Empörungsindustrie“ (S. 189) betrieben wird, insbesondere von „Jan Böhmermann, ZDF- Reichsverweser der neuen deutschen Lachkultur, der Blockwart der 'Netzgemeinde' und führender Abschnittsbevollmächtigter der einzig erlaubten Denkungsart“ (S. 190), der selbst Heinz Erhardts Gedicht von der Made (S. 190) wohl noch als übelsten AfD-Rechtspopulismus verunglimpfen würde.

Broders und Mohrs Fahrt Durchs irre Germanistan ist kein satirischer Trip, sondern vielmehr Veröffentlichung des nationalen Krankenberichts einer Draußen-nur-Kännchen-Republik (S. 83) und eines Mea-culpa-Deutschlands (S. 108), der von zwei – immer noch! – bekennenden Linken verfasst wurde. Beide Autoren, die gelegentlich autobiographische Einsprengsel unterbringen, erweisen sich in diesem sehr lesenswerten Band als sprachgewandte Beobachter, die allzu oft nicht Spott, sondern Mitleid mit der Ampel-Republik empfinden.