Anne Frank

Biographien über Opfer und Überlebende des Holocaust zu schreiben, bedeutet, das Leben „von ganz gewöhnlichen Menschen in außergewöhnlich dunklen Zeiten“ zu schildern, wie es Miep Gies (1909-2010), Gerechte unter den Völkern und Helferin Anne Franks in ihren Erinnerungen tat.

Vorliegender Beck-Wissen-Band über die Jüdin Anne Frank (1929-1945) wurde von Ronald Leopold, Historiker und Generaldirektor des Amsterdamer Anne Frank Hauses verfasst. Er
beinhaltet als Hauptteil einen biographischen Abriss (S. 9-82), berichtet aber auch über die Kriegsheimkehr des Vaters Otto (1889-1980) und behandelt das Tagebuch Anne Franks und das 1960 eröffnete nach ihr benannte Haus sowie die vielfältigen Facetten eines nach 1945 einsetzenden weltweiten kollektiven Gedächtnisses an das jüdische Mädchen (S. 83-136).

Wie bei vielen deutschen Juden aus der Generation von Annes Vater war auch Otto „die deutsche Identität vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten wichtig“ (S. 10). Annes erste Lebensjahre stehen unter schlechten Vorzeichen: zwischen einsetzender Weltwirtschaftskrise in der Spätphase von Weimar und aufziehender nationalsozialistischer Herrschaft durchlebt die gutsituierte Familie Frank „Eine doppelte Krise“ (S. 13-16). Annes Leben in Deutschland endet Anfang 1934 mit der Übersiedlung nach Amsterdam, wo sie in „eine lebendige Emigrantengemeinschaft mit verschiedenen kulturellen und sozialen Einrichtungen und formellen wie informellen Netzwerken“ (S. 23) eingebunden war. Wenn Anne Frank je glücklich sein konnte, dann in diesen Amsterdamer Jahren, über die sich ab 1938 „Dunkle Wolken“ (S. 28-33) legten. Mit Beginn des Westfeldzuges der Deutschen Wehrmacht offenbarte sich jüdisches Exilleben als gefährdet. Jüdischer Alltag war fortan durch „Registrierung, Ausgrenzung und Verfolgung“ (S. 36-44) gekennzeichnet, der im Falle der Familie Frank nicht durch Flucht zu begegnen war, da Pläne zur Auswanderung nach Übersee „in der amerikanischen Bürokratie versandet“ waren (S. 42). Für die Familie Frank beginnt das „Leben hinter einem Bücherschrank“ (S. 55-58), einem mannshohen Standregal, das als Abdeckung für die Zuwegung zu einem Hinterhaus des Amsterdamer Firmengebäudes Otto Franks diente, in dem die Franks ihr Versteck bezogen. Im originalen Zustand erhalten, wird das Regal heute in fast obszön anmutender Weise Touristen im Anne Frank Haus als schwenkbares Verschlussmöbel ad oculos vorgeführt.

Das Versteck wurde verraten und die Familie Frank durch den Gestapomann Silberbauer (1911-1972) am 4. August 1944 verhaftet. Es folgen Schilderungen über „Deportation und Tod, 1944-1945“ (S. 68-82): Die Franks werden zunächst der Amsterdamer SD-Dienststelle überstellt und wenig später über das niederländische Lager Westerbork weiter nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Nach achtwöchigem Aufenthalt wurden Margot und Anne Frank nach Bergen-Belsen verbracht, wo sie Anfang November auf freiem Feld „im strömenden Regen in der Kälte, fast ohne Kleidung und Decken“ (S. 79) kampierten. Die letzten drei Lebensmonate lassen sich nur bruchstückhaft durch Zeugenaussagen von weiblichen Mitgefangenen rekonstruieren. Nanette Konig-Blitz (*1929) ist nach dem Tod von Hannah Pick-Goslar 2022 die letzte noch lebende Schulfreundin von Anne und Augenzeugin ihrer letzten Lebenstage (S. 81-82).

Annelies Marie Frank, an Fleckfieber erkrankt und in graue Decke gehüllt, starb entkräftet im Februar 1945, nur wenige Tage nach ihrer Schwester. „Es wurde eine große Grube gegraben, da wurden sie hineingeschmissen“, erinnert sich die Augenzeugin Rachel van Amerongen-Frankfoorder (1914-2012).

„Das Rätsel um die Verhaftung“ der Franks (S. 91-97) bleibt bis heute im spekulativen Dunkel bis Halbdunkel. Das Tagebuch der Anne Frank verdankt sein Überleben hauptsächlich Miep Gies, die es kurz nach der Verhaftung der Franks entdeckte und an sich nahm und Otto Frank, der es 1947 erstmalig unter dem Titel Het Achterhuis. Dagboekbrieven van 12 juni 1942 – 1 augustus 1944 veröffentlichte. Es zeigt „einen vielschichtigen, collageartigen Charakter“ (S. 99), den Leopold näher beschreibt und dabei auch „Anne Frank als Schriftstellerin“ entdeckt (S. 102-104). Annes Tagebuch, ihre Kurzgeschichten und das Roman-Fragment Das Hinterhaus bilden den Grundstock eines Anne-Frank-Gedächtnisses, das Leopold am Beispiel von Theater und Film verdeutlicht (S. 110-112). Zugleich beschreibt er das Anne Frank Haus und vor allem „Die vielen Gesichter der Anne Frank seit 1947“ (S. 124-136), womit eine regelrechte „Anne-Frank-Industrie“ geschaffen wurde, wie es David Barnouw vom Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation fast despektierlich feststellte.

Das Mädchen Anne, aufgeweckt, frech, neugierig, lebenshungrig, begegnet dem Leser vor allem in den Tagebüchern, aus denen Leopold fast durchgängig zitiert. Das beigesteuerte Bildmaterial zeigt die bekannten Anne-Frank-Aufnahmen eines hübschen, fröhlichen Mädchens aus der Zeit der deutschen Besatzung (S. 39-47), führt aber auch Personen aus der Familie Frank und ihrem näheren Umfeld auf. Die hintere Buchdeckelinnenseite präsentiert eine ganzseitige in Farbe gehaltene Querschnittdarstellung des Gebäudekomplexes, das als Kontor und Versteck der Familie Frank diente.

Anne wird eingebettet in das Schicksal der gesamten Familie Frank. Holocaustopfer, so kann es der Leser mitnehmen, sind selten Individuen, vielmehr Familienkollektive. Für den Schulunterricht ist Leopolds Biographie sehr empfehlenswert. Die Berichte von Augenzeuginnen aus dem Lager Bergen-Belsen über die letzten Lebensmonate der Anne Frank bleiben hier leider sehr knapp gehalten. Die Aussagen der Mithäftlinge Amerongen-Frankfoorder, Goldstein-van Cleef, de Jong-van Naarden, Evers-Emden und Konig-Blitz (S. 70-82) finden im Werk De laatste zeven Maanden. Vrouwen in het Spoor van Anne Frank, das bereits 1988 bei Gooi & Sticht in Hilversum erschien, eine ausführlichere Würdigung. In deutscher Übersetzung liegt hierzu eine von Willy Lindwer im selben Jahr beim S. Fischer Verlag veröffentlichte Dokumentation vor. Der Leser erhält dennoch einen sehr gut geschriebenen Band über den Menschen Anne Frank, der auch das Erinnerungsphänomen Anne Frank gut zu umreißen vermag.