Rehabilitationen Roms
Die römische Antike in der deutschen Kultur zwischen Winckelmann und Niebuhr

Angela Cornelia Holzer wirft einen intensiven Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der antiken Fächer um 1800 in Deutschland, in dessen Zentrum das Verhältnis zwischen Griechen- und Römertum steht. Über sechs Kapitel hinweg arbeitet sie die anfangs griechenlandfreundliche und römerfeindliche Auffassung deutscher Gelehrter gegenüber der klassischen Antike heraus, um aufzuzeigen, wie mit einer tiefer gehenden Betrachtung antiker Hinterlassenschaften – nicht zuletzt auch der archäologischen Zeugnisse – die römische Kultur zunehmend positiver rezipiert wird.

Obgleich sie einschränkend vorausschickt, dass sie nur Tendenzen und Dimensionen des Nachlebens der römischen Antike verdeutlichen kann (S. 24), da sie sich auf einige wenige Hauptvertreter der Geschichtswissenschaften stützen will, ist es ihr gelungen, ein methodisch vorbildlich gegliedertes und mit großer Fach- und Sachkompetenz verfasstes rezeptionsgeschichtliches Überblickswerk zu einem der wichtigsten modernen Kristallisationsorte der Antike (wie auch der Moderne) vorzulegen. Detailreich, fast schon minutiös, entwirft sie die Entstehung und Entwicklung der historischen Wissenschaften und ihre Reflexion bis hin in die populäre Literatur wie etwa Kinderbücher. Längere Abschnitte widmet sie Winckelmann, dessen eigene Zweifel und daraus entstehende Weiterentwicklungen von stilistischen Kriterien der Kunst sie ausführlich zusammenfasst.

In chronologischer Reihung verfolgt sie den von Winckelmann vorgegebenen Weg über Friedrich August Wolf, Wilhelm von Humboldt und Christian Gottlob Heyne weiter.

Mit Friedrich Schlegel tritt eine stärkere, an der Geschichte der Philosophie ausgerichtete Reflexion über die römische Antike ein, der den „Charakter“ aus den antiken Überlieferungen zu extrapolieren sucht (vgl. S. 116). Zu Recht verweist sie auf die von Schlegel vorgenommene Differenzierung der griechischen von der römischen Kultur, wobei er letztere mit „Größe, Kraft, Freiheit, Gerechtigkeit“ und „Offenheit“ assoziiert (S. 119), und dies an einzelnen Personen wie etwa Julius Cäsar „vollendet“ sieht (vgl. S. 121). Diese positive Wertung ist in der Wissenschaftsgeschichte bis dahin unbekannt. Dieser Charakterzug erstreckt sich bei Schlegel auch auf die römische Religiosität; Holzer verweist hierbei auf Christian Daniel Beck, der unter Umständen Ideengeber der Schlegelschen Ausführungen gewesen sein mag (vgl. S. 129).

Eine neue Ausrichtung der Historiografie setzt die Verfasserin um 1800 an, die um den Aspekt der Selbstreflexion erweitert wird (S. 141-229). Herausragende Innovationen stellen die Werke von Oliver Goldsmith, Adam Ferguson und Edward Gibbon dar, die teilweise bis heute Neuauflagen erfahren. Eine ganz eigene Wendung erleben die Übersetzungen der Werke der oben genanten Autoren, die in Rezensionen neben dem Stil der Übertragung zunehmend gestiegene Ansprüche an die Redaktion stellen, fachliche Irrtümer auszuräumen. Die kritische Auseinandersetzung vor allem mit Gibbon veranlasst Herder, in Tacitus den Prototypen staatspolitischen Denkens zu sehen. Hier übertrifft Rom die griechischen Vorläufer und wird in der Folge selbst prägend für das Wesen der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts.

Sittengeschichtlich arbeitete Christoph Meiners (S. 193-202) die römische Antike auf, ohne jedoch größere Beachtung gefunden zu haben. Mit Hegewisch (S. 202-206) schließt sich die Beschreibung der römischen Antike an die neuen politischen Verhältnisse an, die die kaiserliche Herrschaft als Idealzustand der aufgeklärten politischen Ordnung sieht. Imperium Romanum und Deutschland bilden dadurch eine kulturpolitische Einheit.

Zu Recht gewährt Holzer Herder und dessen Geschichtsphilosophie umfassend Raum, um dessen Theorie einer universellen Weltgeschichte zu verdeutlichen, die es zu erforschen galt. Er erweiterte Winckelmanns Griechenlandideal, das er nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Sprache sieht und darauf aufbauend Verbindungen zwischen deutschem und griechischem Geist konstruiert. Alles Römische erscheint in diesem Kontext negativ, jedoch stellt Holzer die Frage nach einer möglichen Ambivalenz in Herders Haltung zur römischen Antike (S. 216-226). Zwar, so ihr Fazit, überwiegt die Einschätzung, in der römischen Kultur „Gewalt, Herrschaft und Zerstörung“ (S. 225) zu sehen, aber es existieren auch Tugenden wie Mut, Patriotismus und Unparteilichkeit, wenngleich sie nur einzelnen Römern zu eigen sein sollten. Herder führt diese beiden Pole nie zusammen. Das gewalttätige Rom ist für Herder der tiefe Fall in der Menschheitsgeschichte, der sich aber nach seinen Vorstellungen nicht wiederholen kann: Die Vernunftbegabtheit des Menschen lasse es nicht zu, eine einmal erfahrene Barbarei nochmals zu wiederholen. So bekommt auch alles Negative im geschichtlichen Lauf seinen Sinn, wenn es als historische Lektion verstanden wird.

In einem weiteren eigenen Kapitel beschreibt Holzer kurz die Bedeutung der Antiquitäten für die Entwicklung des römischen Antikenbildes in Deutschland (S. 231-260). Karl Philipp Moritz attestiert sie eine anthropologische Herangehensweise und greift damit die Neuauflage und Kommentierung seiner Werke in jüngerer Zeit auf, die sie anhand seines Werkes Anthusa ausführlich dokumentiert.

Mit Schiller, Herder und Schlegel thematisiert Holzer im fünften Kapitel ihres Buches die „Romantisierung Roms“ in der griechischen und lateinischen Literatur (S. 261-319). Der um 1800 gegenwärtigen Meinung Schlegels etwa, dass die römische Dichtung nur eine Kopie der griechischen sei, setzt sie beispielsweise Friedrich August Wolfs Vorlesungsgrundriss entgegen und arbeitet die verschiedenen Bewertungskriterien, die von den deutschen Dichtern zum Verständnis der römischen Poesie angelegt werden, sehr deutlich heraus. Die Sprache reflektiere dabei die Kulturepochen Roms, hingegen z. B. Wolf bereits eine politische Sortierung vorgeschlagen hatte, die hierauf aufbauend die „Problematik der Konstruktion von römischer ‚Literaturgeschichte’ reflektiert“ (S. 269). Die deutschen Romantiker greifen diese Diskussion auf und verknüpfen sie mit der Frage der Ästhetik: Geschichte, Philosophie und Kunst sind nun gemeinsame Grundlagen für die Skizzierung eines antiken römischen Gesamtbildes.

Als abschließendes sechstes Kapitel schaut Holzer auf die Transformationen dieser verschieden motiviert entstandenen Rom-Bilder hinein in das 20. Jahrhundert. Alois Riegels Spätrömische Kunstindustrie erschafft den Begriff der Spätantike und schlägt den Bogen hin zum Mittelalter.

Mit diesem weit ausgreifenden Überblick zur Ausdifferenzierung der antiken Wissenschaften hat Angela Holzer eine Lücke geschlossen, die zum Verständnis der deutschen Wissenschaftsgeschichte wichtige Impulse liefert.