Autobahn
Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum

Dem Thema von Michael Kröcherts aktuellem Buch Autobahn. Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum kann man kaum ausweichen; rund 40 Millionen Fahrer von Kraftfahrzeugen gibt es nach Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamtes im Jahr 2019, die sich auf mehr als 47 Millionen Fahrzeuge verteilen. Kaum einer dürfte darunter sein, der nicht schon einmal die blau-weiß beschilderte Schnellstraße genutzt hat.

Während diese Kurzanzeige entstand war auch der Rezensent mit seiner Familie unterwegs auf der Autobahn – bei Kassel-Nord war die Gegenfahrbahn wegen eines Unfalls mit zwei LKW und einem Kleintransporter gesperrt. Ein Rettungshubschrauber auf dem Standstreifen deutete die Tragik des Geschehens an. Auch Michael Kröchert ist für seine Recherchen an eben dieser Stelle vorbeigefahren, um den „inneren Ring“ abzufahren, das vorletzte und zugleich zehnte Kapitel (S. 205-234) seines Einblicks in den „Asphalt der deutschen Seele“ (S. 234) – der eigentlich treffendere Untertitel für den Inhalt seines Buches.

Denn Kröchert nimmt seine Leserschaft weniger mit zu einem Bericht über Geschichte oder Realität einer A7 oder einer A4, sondern er beschreibt eindrücklich und in einem brillanten Stil sein und das Leben Anderer mit den Realitäten des Phänomens Autobahn. So geschieht es, dass die A4 im Konflikt zwischen RWE und Aktivisten zum Erhalt des Hambacher Forstes auf die wenigen Kilometer reduziert wird, die ursprünglich durch den Wald verliefen und schon seit Jahren stillgelegt sind. Umso eindringlicher skizziert er, welchem Druck, welchen Unsicherheiten und welchen Schikanen die in den Baumwipfeln campierenden Protestierenden ausgesetzt sind, welche Beweggründe sie antreiben, einen angesichts der Monumentalität der Schaufelbagger schier aussichtslosen Widerstand zu leisten und schließlich welchen Mut es erfordert, sich Polizeihubschraubern und betrieblichen Sicherheitsdiensten entgegen zu stellen aus der vollen Überzeugung heraus, für sich und den nachfolgenden Generationen etwas ansonsten unwiederbringlich Verlorenes zu bewahren (S. 53-90).

Die A10/A2 wird von Kröchert und seinen Begleitern schon kurz nach der Auffahrt wieder verlassen, damit die Autobahnpolizei zu einem Einsatz um ein Familiendrama in einem Einfamilienhaus, gelegen in einem Dorf abseits der Schnellstraße, gelangen kann (S. 17-34). Unendlich präsent sind hingegen die A648/A5/A66 bei Frankfurt durch ihren 24-stündigen, Lärm erzeugenden Verkehr, so dass die Anwohner derart sprachlos geworden sind, um kaum noch mit Kröchert zu reden (S. 35-52). Andere seiner kurzen Erzählungen sind vielschichtiger, etwa der Besuch der nördlichsten deutschen Autobahnkirche in Kavelstorf, den er auf die Frage nach Religion und Tod auf der Autobahn ausweitet (S. 153-175); oder die Suche nach Reporter und Autor Jörg Fauser, der betrunken auf der A94 umherlief und den Tod fand, der den auf dem noch unfertigen Autobahnteilstück wandernden Kröchert zu den Folgen für Umwelt und Menschen des 33 Kilometer langen Neubaus dieser Strecke führt, gleichfalls aber auch die Begeisterung der Bauausführenden widerspiegelt, technisch innovativ zu wirken (S. 127-152). Der Stau um Wuppertal, Bochum, Dortmund und/oder Recklinghausen ist das wenig originelle, aber eben alltägliche Phänomen, für das Nordrhein-Westfalen traurige Berühmtheit erlangt hat (S. 91-112) – fast schon im Status eines Weltkulturerbes, wie Kröchert andeutet (vgl. S. 96). Und von der A29 kommend macht er seine Leserschaft mit Bodo, den Truckerfahrer, bekannt, dessen automatisierter LKW das autonome Fahren in den Fokus der zukünftigen Entwicklungen des Verkehrs rückt und die Frage aufwirft, wie es um die Berufsfahrer in den nächsten Jahren bestellt sein wird (S. 177-203). Als Sehnsuchtsort inszeniert Kröchert die Autobahn in Verbindung mit seiner ersten Liebe (S. 113-125). Dass der schwarze Asphalt als romantisches Portfolio nicht taugt, hat er leidvoll am eigenen Leib erfahren müssen: Einem „Sinnbild der Zerstörung“ (S. 116) konnte seine ökologisch orientierte Freundin überhaupt nichts Positives abgewinnen.

So geht es in Kröcherts Buch kreuz und quer über die automobilen Fernstreckennetze durch Deutschland mit zugleich vielen verschiedenen Assoziationen, Erlebnissen und Eindrücken. Der Tenor des Buches bleibt dabei konstant immer kritisch und nachdenklich; Heiteres ist auf den deutschen Autobahnen augenscheinlich wenig zu entdecken: Ihre in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft glorifizierte Geschichte, die Tausenden Zwangsarbeitern das Leben kostete, wie auch die tagtäglich zu beklagenden Unfallopfer bieten auch keinen Platz hierfür. Einen Erholungsfaktor, das sog. „Autowandern“ (S. 225), der einstmals angedacht war, kann es bei überfüllten Straßen – oder wie Kröchert es mit „Sättigung“ (S. 97) umschreibt, nicht geben. Autobahnen haben sich zu Wirtschaftsadern entwickelt, die vielfältig Ressourcen verschlingen – Forste, Täler, Stille. Reisende kommen schneller von einem Ort an den anderen und wiederum von dort weg, doch diejenigen, die an den Fernstraßen leben, sind zum Bleiben verdammt. Kaum ein anderes deutsches Kulturgut ist derart zwiespältig besetzt wie Autorouten.

Kröcherts Publikation erscheint als Sachbuch, doch sucht man in ihm vergeblich nach Statistiken, Chronologien oder der neu gegründeten Autobahn GmbH des Bundes. Seine Reportagen sind vielmehr kurze Erzählungen, deren stilistische Grenzen rasch verschwimmen: Kapitel 6 „Erste Liebe“ beispielsweise ist ein Beispiel für das Fernweh im Kontext der Straße, zugleich aber erzählerisch die gelungene Allegorie auf die Autobahn als Weg zu sich selbst. Dass Kröchert Fauser nachforscht, folgendes mag an dieser Stelle gemutmaßt sein, ist mehr als die Suche nach einem allen im Buch erwähnten Beteiligten unbekannten Autor, sondern eine Anknüpfung an einen Reportagestil, der Information und anspruchsvolle Erzählform kombiniert. Kröchert lässt ein Sachbuch über die Autobahn entstehen, das zugleich wie eine Sammlung von Kurzgeschichten gelesen werden kann, in denen Fernstraßen vorkommen.

Den „Mythos“ hatten bereits erschöpfend Erhard Schütz und Eckhard Gruber vor bereits mehr als 20 Jahren abgehandelt. Daran will Kröchert nicht anschließen; Ziel seines Buches ist zu fragen, was die Autobahn mit denen macht, die auf ihr fahren oder an ihr leben – ihn selbst eingeschlossen. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Statement, das in vielen Einzelaspekten aber die Fernstraße unmittelbar gar nicht berührt. Kröchert zweifelt sie weder an noch verherrlicht er sie; er zeigt anhand ausgewählter Beispiele den vielschichtigen Umgang mit ihr, der sich über die Nutzung als Fahrerin oder Fahrer hinaus konkret ausweiten lässt auf ihre Planer, ihre Gegner, den Staat als Träger und die Polizei als Ordnungsmacht, verschiedene Anwohner, die in nächster Nähe an ihr wohnen oder wegen ihres Baus ihre Grundstücke verkaufen mussten, auf ihre Geschichte und die Kulturdenkmäler, die durch sie zu erreichen sind, wie schließlich auf die Verkehrstoten und ihr Gedenken. Kröcherts Autobahn. Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum ist ein Einblick in die Seele des Asphalts, der für jeden seine eigenen Geschichten bereithält. Das Buch ist ein Mosaikstein zum Verständnis der Fernstraße, nicht eine abschließende Betrachtung.