Das Kolosseum

Die im handlichen Format gehaltene Paperback-Ausgabe der Universal-Bibliothek „erzählt die spannende Geschichte vom Bau des weltberühmten Amphitheaters, von der Logistik dahinter und den Gladiatorenkämpfen darin, vom Publikum und den Kaisern [...] und von den späteren Funktionen der Anlage“ (Umschlagtext hinten). In sechs Kapiteln führen die Autoren – Keith Hopkins, ehemalige Professor für Alte Geschichte an der Universität Cambridge, 2004 verstorben, und Mary Beard, Professorin für Altertumswissenschaften der Universität Cambridge – den am Kolosseum interessierten Leser zuerst in dessen gegenwärtige Rezeptionsgeschichte ein (Kapitel 1), leiten dann in die Rezeption in der Antike anhand schriftlicher Überlieferungen über (Kapitel 2), gehen danach auf die antike Verwendung des Gebäudes bei Gladiatorenkämpfen und Tierhetzen ein (Kapitel 3), werfen einen Blick auf die soziokulturellen Hintergründe der Besucher und der im Kolosseum Tätigen (Kapitel 4), skizzieren die Baugeschichte (Kapitel 5) und erläutern die spätantike, mittelalterliche und barocke Verwendung des Baus (Kapitel 6).

Die sehr gute wie einfühlsame Übersetzung von Ursula Blank-Sangmeister und Anna Raupach hat den englischen Witz, der den Leser durch viele Zeilen des Bandes begleitet, treffend in das Deutsche übertragen und damit wesentlich dazu beigetragen, dass es ein köstlich zu lesendes Buch ist. Denn ansonsten – und dies darf nicht unerwähnt bleiben – würden die teilweise harschen Kritiken von Autor Hopkins an Fachkollegen und Vertretern von Nachbardisziplinen einfach nur bösartig wirken. So sind sie mit einem Schuss Humor gewürzt und spiegeln wieder, wie weit Forschungsmeinungen variieren können und jede Darstellung jeweils andere Bilder von antiken Kulturen zeichnen können. Dies ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die der Leser des Buches mitnehmen kann.

In diesem Zusammenhang stehend, ist die Frage im ersten Kapitel denn auch, wie unsere heutige Gesellschaft sich zur Gewalt positionieren will, und wie in der Folge wir uns humanistisch Gebildeten angesichts der Gewaltexzesse in der römischen Zivilisation von dieser distanzieren und unterscheiden wollen, zugleich aber deren Errungenschaften loben und in Teilen übernommen, sogar vereinnahmt haben. Dieser kulturgeschichtlich durchaus spannenden Frage gehen die Autoren leider nicht konsequent nach – dies ist deshalb besonders schade, da es dem Buch einen roten Faden gegeben hätte, ein Leitmotiv, was sich leicht in den verschiedenen und sehr differenten Kapiteln immer wieder hätte thematisieren lassen. So sind die Inhalte der unterschiedlichen Abschnitte im Grunde isoliert nebeneinanderstehend. Hinzu kommt, dass die Argumentation der Autoren sehr sprunghaft ist, denn es wird oft eine These dargestellt, dann deren Ergebnis verworfen, aber dennoch auf jener, gerade eben zurückgewiesenen Erkenntnis aufbauend, die Geschichte des Kolosseums fortführend skizziert; so geschehen beispielsweise im zweiten Kapitel (S. 46), in dem die von Géza Alföldy rekonstruierte Weihinschrift des Amphitheaters (Abb. 7) entweder „das Ergebnis einer brillanten akademischen Detektivarbeit ist oder aber das Produkt einer lebhaften Fantasie, gepaart mit Wunschdenken“, wie die Autoren meinen. Inhaltlich liest Alföldy aus dem Text heraus, dass das Kolosseum aus der Beute des römischen Siegs über die Juden finanziert worden ist, wie anschließend auch Hopkins und Beard schreiben: „Der Bau war in gewisser Hinsicht der Tempel von Jerusalem, der, durch die römische Kultur umgeformt und zur Belustigung des Volkes wiederaufgebaut, die imperiale Macht demonstrativ zur Schau stellte“ (S. 47). Von der lebhaften Fantasie, gepaart mit Wunschdenken ist hierbei also nicht mehr die Rede, weshalb dann überhaupt dieser schlussendlich mehr verwirrende Einwurf.

Die antiken Gladiatorenkämpfe im Kolosseum haben ihren Widerhall vor allem im „Buch der Schauspiele“ des römischen Dichters Martial (40- etwa 104). Den dort beschriebenen Kampf zwischen einem Priscus und einem Verus halten die Verfasser für wahr und wörtlich und entwerfen hierauf eine Skizze der im Amphitheater ausgetragenen Kampfgeschehen. Für diese angenommene Authentizität gibt es jedoch keinen gesicherten Beleg, und die Autoren bedienen sich hier selbst der oben noch von ihnen kritisierten Fantasie, gepaart mit Wunschdenken. Ein Blick auf die geringe Überlebenschance der Gladiatoren, die mit 13 % (S. 114) angegeben wird wie auch die Hilflosigkeit der römischen Kaiser, durch Anordnungen das mörderische Spiel in weniger tödliche Bahnen lenken zu wollen, lenken das Augenmerk des Lesers auf das Christentum und seine Instrumentalisierung des Amphitheaters. Nicht unerwähnt bleiben bei Hopkins und Beard daher die sog. Märtyrerakten, die Zeugnisse der frühen Christenverfolgung mit Todeskampf in der Arena, den etwa der hl. Ignatius in seinem Römerbrief eindrücklich schildert. Für glaubhaft halten beide Autoren derartige Schilderungen nicht und setzen sie als Beschreibung „mit einem christlichen Symbol und einer christlichen Botschaft verbrämt“ aus eine Stufe mit der großspurigen „Übertreibung vonseiten römischer Kaiser“ (S. 134).

Das Resümee der beiden Historiker über Gladiatoren, Publikum und Kaiser fällt ambivalent aus: nach unseren heutigen Maßstäben grausam, aber auch nicht ohne ethische Grenzen in der Antike. Töten sei nun einmal Bestandteil der römischen Kultur gewesen (vgl. S. 154).

Der Abschnitt über die Baugeschichte fasst wichtige archäologische Befunde zusammen, spart jedoch die Entdeckungen der letzten gut 15 Jahre aus (dies dürfte mit dem Tod Hopkins’ in Zusammenhang stehen), geht auf die Wiederherstellung des Kolosseums während verschiedener Zeiten ein und diskutiert die bildlichen Überlieferungen des Gebäudes seit der Antike. Die Reliefskulptur vom Grab der Haterii aus dem ersten Jahrhundert (Abb. 22 auf S. 159) als „zweifellos fantasievolle antike Darstellung“ abzutun verkennt, sich einer adäquaten Lesbarkeit antiker Darstellungskunst bedienen zu müssen (zumal hier wie bereits oben der Fantasie eine wichtige Rolle bei der Missachtung archäologischer Quellen zugeschrieben wird). Bilder jener Epoche sind eben nicht fotografisch oder streng perspektivisch, das sie nicht das unmittelbar Gesehene wiedergeben wollen, sondern mit dem Bild Information und Aussagen über das Gezeigte transportieren sollen. Daher taugt diese Abbildung durchaus als Mosaikstein zu einer Rekonstruktion, wie der Bau einstmals aussah. Alles in allem ist dies der schlechteste Teil des Buches, weil unzureichend recherchiert worden ist.

An das Ende ihres Werks haben Hopkins und Beard den Verfall des Kolosseums nach dem Ende seiner Nutzung als Aufführungsbühne gesetzt. So schließt sich ein Kreis, der mit der Betrachtung auf das Bauwerk in der Moderne begonnen hatte (es folgen noch Besichtigungs- und Restauranttipps, die jedoch wie eine Randnotiz äußerst kurz gehalten sind).

In jedem Falle kann man dieses Buch interessierten Touristen an die Hand geben, die nach der Aufmachung des Bandes und unter Berücksichtigung z. B. der oben erwähnten Restauranttipps erste Ansprechpartner hierfür sind. Für das Studium ist es nur begrenzt nutzbar, da es sich klar zum Ziel setzt, allgemeingültige Erkenntnisse in Zweifel zu ziehen – was durchaus legitim ist -, dann aber methodisch keine Alternativen anbietet, die die Communis Opinio wirklich ins Wanken bringen würde. Wertvoll ist das Buch bei der Frage, wie moderne Kulturen Instrumentarien entwickeln können, antike ethische Vorstellungen wertneutral nachvollziehbar zu machen, ohne sie als „primitiv“ oder „mordlüsternd“ abzuqualifizieren.