Luther, der Ketzer
Rom und die Reformation

Mit historischen Jubiläen, die an Ereignisse oder Persönlichkeiten von herausragender Bedeutung erinnern, geht regelmäßig ein immenses Publikationsaufkommen einher, das sich indes zunehmend in die Jahre vor dem eigentlichen Festakt verlagert. Die Menge der Neuerscheinungen korreliert dabei freilich nur selten mit den darin enthaltenen neuen Erkenntnissen. Auch im Vorfeld des 500jährigen Reformationsjubiläums ist die Zahl der Bücher zu Luther und der Reformation bereits rapide angestiegen, sind doch allein in der sog. Reformationsdekade bereits annähernd ein Dutzend neuer Lutherbiografien veröffentlicht worden. Volker Reinhardts jüngstes Werk „Luther, der Ketzer“ fügt sich hingegen nicht nahtlos in die Reihe der Überblicksdarstellungen zu Luthers Vita ein, sondern konzentriert sich auf einen Aspekt, der bislang zwar mitnichten völlig unberücksichtigt geblieben ist, meist jedoch nur nebensächlich behandelt wurde: die Beziehung, Interaktion und gegenseitige Wahrnehmung von Martin Luther und dem Papst respektive der römischen Kurie. Oder kurz gesagt: „Rom und die Reformation“, so der bündige Untertitel. Reinhardts Vorgehensweise mutet dabei ziemlich konventionell an, wenn er trotz der typologisch gewählten Kapitelüberschriften (Luther, der Mönch; Luther, der Kritiker; Luther, der Barbar, etc.) streng chronologisch verfährt.

Was seinem Werk jedoch eine erfrischend neue Note verleiht, ist die ausführliche und überaus instruktive Darstellung der Rezeption Luthers und der Reformation südlich der Alpen sowie der Reaktionen, Handlungsspielräume und -logik(en) der römischen Kurie. Hier kommen Reinhardts Stärken als exzellenter Kenner Renaissance-Italiens voll zur Geltung. Auf gut nachvollziehbare Weise zeigt der Frühneuzeithistoriker wie die Kurie selbst die Entstehung, Ausbreitung und Verfestigung der Reformation ungewollt förderte, indem alle Päpste (mit Ausnahme Hadrians VI.) ihr Handeln in erster Linie den eigenen Familieninteressen unterordneten, die wiederum den habsburgisch-französischen Dauerkonflikt berührten. So standen religiöse Probleme und Gravamina für das geistliche Oberhaupt der (westlichen) Christenheit selten ganz oben auf der Agenda – dort fanden sich in der Ära des Renaissancepapsttums in der Regel machtpolitische Fragen. Dieses Amtsverständnis stieß nicht allerorten auf Verständnis und gerade im Heiligen Römischen Reich wuchs von Jahr zu Jahr die Unzufriedenheit gegenüber dem Zustand der Kirche, ohne dass in Rom etwas (Wirkungsvolles) dagegen unternommen worden wären.

Diese rumorende Stimmung kanalisierte Martin Luther in seinen Schriften und Predigtendurchaus zielsicher, wodurch die Reformbemühungen eine neue Dynamik bekamen. Dabei konnte Luther – ein „Genie der Mediennutzung“ – problemlos auf ein bereits bestehendes Reservoir an antiitalienischen Vorurteilen und Aversionen zurückgreifen, z.B. wenn er sich als Befreier vom römischen Joch in der Nachfolge des Arminius inszenierte.Umgekehrt galt dasselbe für die italienische Seite, die ebenfalls bereits vorhandene Feindbilder in den gegen Luther gerichteten Schriften aktualisierte und perpetuierte. Diesen Aspekt betont Reinhardt nachdrücklich, wenn er der präfigurierten Perzeption des jeweiligen Gegners eine entscheidende Rolle bei der Konfliktverschärfung einräumt; letztlich gelang es keiner der beiden Seiten, sich von den bestehenden Stereotypen zu lösen und andere, als die niedersten Motive beim feindlichen Gegenüber auszumachen. Während die Deutschen in der Heimat des Humanismus und der Renaissance als ungebildete und hinterwäldlerische Barbaren galten, war im Alten Reich das Klischee des heimtückischen Italieners ubiquitär.

Anders als in der ‚klassischen‘ Literatur zu Luther und der Reformation findet die römisch-katholische Seite bei Reinhardt gleichberechtigt Raum, wodurch nachgerade die Perspektive auf Zentralereignisse der Reformation, wie z.B. Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag 1521, ausgewogener, weil vielstimmiger wird. Während beispielweise die Widerrufsweigerung des Wittenberger Reformators auf protestantischer Seite als Moment heroischer Standhaftigkeit erinnert wird, sah der päpstliche Gesandte Girolamo Aleandro (Aleander) im Auftritt Luthers eine völlige Blamage. Aleandro äußerte sogar den Verdacht, Luther sei nur ein Strohmann anderer Mächte, so wenig überzeugte ihn dessen Verteidigung seiner inkriminierten Schriften. Neben bekannten Luther-Kontrahenten wie eben Aleandro oder Kardinal Cajetan kommen in „Luther, der Ketzer“ auch weniger prominente Akteure zu Wort, so etwa Silvestro Mazzolini, der die erste italienische Gegenschrift zu Luther verfasste, oder Nuntius Pietro Paolo Vergerio, der in Luther zunächst ein vom Teufel besessenes Ungeheuer erblickte, bevor er später selbst zum Protestantismus konvertierte.

Der Mythos „Luther“ – dessen Entzauberung nicht nur die katholische Forschung schon seit geraumer Zeit betreibt – wird durch die konsequente Einbindung des römischen Blickwinkels an mehreren Stellen seiner historischen Überhöhung entkleidet, ohne dass deshalb die Geschichte der Reformation neu geschrieben werden müsste. Das gibt allein schon die Quellengrundlage Reinhardts nicht her. Denn anders als es die Verlagswerbung insinuiert, hat er keine neue „Geheimakte Luther“ ausfindig gemacht, sondern ausschließlich mit bereits ediertem Material gearbeitet – welches in der Lutherforschung bislang allerdings (zu) wenig beachtet wurde.Dies gilt insbesondere für die „Nuntiaturberichte aus Deutschland“. Durch die Auswertung dieser Akten kann Reinhardt zeigen, dass Rom nicht etwa unter mangelnder Kenntnis über die Vorgänge im Alten Reich litt, sondern dass die Berichte der Legaten und Nuntien vielmehr schöngeredet, missdeutet oder mitunter schlicht ignoriert wurden. An einer konsequenten und nachhaltigen Lösung des „deutschen Problems“ bestand allzu lange kein ernsthaftes Interesse.

Misslich an der Studie ist die äußerst sparsame Verwendung von Belegen. Denn Reinhardt kritisiert die bisherige Reformations- und Lutherforschung zum Teil pauschal, ohne jedoch an einer einzigen Stelle konkrete Werke oder Autoren zu nennen. Nachgewiesen werden lediglich Quellenzitate, was in einem Buch, das sich an ein breiteres Publikum richten will, vielleicht vertretbar erscheinen mag. In diesem Fall wäre aber zumindest ein kommentiertes Literaturverzeichnis wünschenswert gewesen, denn gerade außerhalb der scientificcommunity dürfte oft unklar bleiben, gegen welche Thesen und Sichtweisen sich die Beanstandungen eigentlich richten. Völlig überflüssig, ja sogar ärgerlich, ist der gänzlich undifferenzierte und einseitige Epilog, der deutlich unter dem Niveau der vorangegangenen Kapitel liegt.

Aber trotz dieser Monita und dem Umstand, dass man in „Luther, der Ketzer“ in Bezug auf Luthers eigene Haltung zum Papsttum kaum Neues erfährt, kann man das Buch hinsichtlich der römischen Perspektive auf die Person des deutschen Reformators und der Diskussionen um dessen Lehren innerhalb der Kurie durchaus mit Gewinn lesen.