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Leben und Lyrik der Else Dormitzer

Im Herbst 1945 veröffentlichte die Holocaustüberlende Else Dormitzer in den Niederlanden einen Gedichtband, der zehn von ihr zwischen April 1943 und Mai 1945 im Getto Theresienstadt verfasste Gedichte enthielt. Else Dormitzer war zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alt.

Sandra Alfers widmet sich in ihrem Buch nicht nur interpretatorisch diesen Gedichten. Den Hauptteil nimmt das Leben Else Dormitzers und ihrer Familie ein. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Alfers mit der Lyrik, die im Getto Theresienstadt entstanden ist, und deren Autoren. Die Suche nach Einzelheiten zu Else Dormitzer war bislang an einigen Stellen lückenhaft geblieben. Alfers hat daher mit viel Aufwand lebende Familienangehörige von Else Dormitzer ausfindig gemacht und kontaktiert. Durch diese bekam sie Zugang zu Briefen, Tagebüchern, Erlebnisberichten, Fotografien und Dokumente, die ihr „das Leben Else Dormitzers und ihrer Familie auf eindrucksvolle und persönliche Weise näher brachten“ (S. 14).

So kann Alfers nun umfassender, als es bislang geschehen ist – etwa in Wolfgang Benz Buch „Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung“ –, die Lebensgeschichte einer Frau zusammensetzen, die 1877 in eine bürgerliche deutsch-jüdische Familie geboren und selbstbewusst erzogen wurde. Else Dormitzer besuchte eine höhere Mädchenschule und engagierte sich in diversen jüdischen und kulturellen Vereinigungen, sowohl auf lokaler, regionaler als auch auf nationaler Ebene. Sie wurde 1922 als erste Frau in die jüdische Gemeindevertretung ihrer Heimatstadt Nürnberg gewählt und später Mitglied im Hauptvorstand des „Centralvereins Deutscher Jüdischer Staatsbürger Jüdischen Glauben“, einer der größten jüdischen Organisationen im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Seit der Jahrhundertwende publizierte sie zudem Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und übersetzte Kinderbücher. „Schreiben zog sich wie ein roter Faden durch Else Dormitzers Leben. Jede freie Minute, so scheint es, widmete sie dieser Aufgabe – auch nach Ende der Gefangenschaft in Theresienstadt“ (S. 15), resümiert Alfers. Bereits im Titel ihres Buches, der wohl auch an Ruth Klügers Beststeller „weiter leben“ erinnern soll, verweist sie auf die wichtige Funktion des Schreiben in Else Dormitzer Leben.

Neben ihren Pflichten und Tätigkeiten als Ehefrau und Mutter – Else Dormitzer heiratete 1898 den acht Jahre älteren aufstrebenden Rechtsanwalt Sigmund Dormitzer und bekam mit ihm zwei Töchter –  hielt sie zusätzlich zu ihrer Vereinsarbeit und Publikationstätigkeit eine Vielzahl an Vorträgen, unter anderem über die jüdische Frau.
Der Nationalsozialismus beendete all diese Tätigkeiten jedoch und 1939 wanderte das Ehepaar wegen zunehmender Verfolgung und Bedrohung zur bereits 1937 ins niederländische Hilversum emigrierten jüngeren Tochter Hildegard aus. Die ältere Tochter Elisabeth lebte seit 1938 in Großbritannien.
Im April 1943 wurde das Ehepaar in das Getto Theresienstadt deportiert, wo Sigmund Dormitzer bereits im Dezember 1943 an den Folgen eines Hungerödems starb. Else Dormitzer füllte die Leere und Verzweiflung im Getto mit insgesamt 275 Vorträgen und ihrem Engagement in der ‚Freizeitgestaltung‘. Sie trug auch einige ihrer im Getto verfassten Gedichte vor, wie diese jedoch aufgenommen wurden, ist nicht bekannt. Nach ihrer Befreiung aus dem Getto kehrte Else Dormitzer zunächst in die Niederlande zu ihrer Tochter Hildegard zurück, im Dezember 1945 zog sie schließlich nach London zu ihrer Tochter Elisabeth.

Die biografischen Daten zu Else Dormitzer ergänzt Sandra Alfers nicht nur mit Fotografien – sowohl Porträts als auch zeitgenössischen Stadtbildern sowie abgedruckten Dokumenten –, sondern auch mit zahlreichen Informationen zum Zeitgeschehen. Abgedruckt sind auch der Gedichtband sowie weitere kürzere Texte Else Dormitzers zu Theresienstadt.

Mit dem kurzen Buch zu „Leben und Lyrik“ Else Dormitzers hat Sandra Alfers mit großer Beharrlichkeit und hohem Engagement das Werk und Leben einer frühen Autorin der Holocaustliteratur ausgeleuchtet und aus der Anonymität geholt. So trägt sie entscheidend dazu bei, dass Else Dormitzers Leben weiterhin erinnert und ihr Werk gelesen werden kann.