Das Ende des Holocaust

Der Holocaust als Ereignis und Begriff wird auch nach der Ära der Zeitzeugen in den nächsten Jahrzehnten sicher nicht in Vergessenheit geraten. Die Erinnerung an die Geschehnisse, vor allem aber das ‚Erzählen‘ über den Holocaust, hat jedoch keineswegs eine für alle Zeiten unveränderliche Form, sondern ist sehr stark im Fluss. Was erinnert wird und wie, hängt maßgeblich davon ab, durch wen die Geschehnisse vermittelt werden und innerhalb welcher spezifischen kulturellen Kontexte dies geschieht.

Mit den sich aus dieser Annahme ergebenden Fragestellungen, Beobachtungen und Problemen setzt sich Alvin H. Rosenfeld in „Das Ende des Holocaust“ auseinander. Er untersucht, wie vor allem Literatur, Film, Fernsehenund Theater den Prozess der Erinnerungsgestaltung in den USA und (vornehmlich) Westeuropa beeinflussen. Denn, so Rosenfelds weithin geteilte Überzeugung, das historische Gedächtnis im weiteren Sinne hänge vielleicht weniger von den Berichten der Historiker ab als „vielmehr von der eigenständigen Gestaltung dieser Geschehnisse etwa durch Autoren, Filmproduzenten, Künstler“ (S. 12). Es sei daher notwendig über die Art und die Funktion dieser Vermittlungsformen und ihrer Interpretationen nachzudenken.

Zukünftig wird das Gedenken an den Holocaust so auch durch Quellen am Leben erhalten, die miteinander in Konkurrenz stehen, sich widersprechen und umstritten sind, stellt Rosenfeld fest. Er versteht dabei den Begriff Holocaust „als ausschließlich zu verwendende[n] Ausdruck für die Verfolgung der europäischen Juden und den geplanten Völkermord an ihnen“ (S. 60). Sein Stellenwert „als eines zentralen Ereignisses in der modernen europäischen und jüdischen Geschichte“ (S. 214) könnte jedoch zunehmend in Frage gestellt werden, befürchtet er. Rosenfelds Hauptsorge gilt der Verwässerung und Entkontextualisierung der Metapher Holocaust. Die Erweiterung und ‚Dehnbarkeit’ des Begriffs mache ihn nahezu auf jedes Leid anwendbar, aber damit gleichzeitig unkonkret und konturenlos. Das eigentliche Leid hinter dem historisch singulären Ereignis werde so verwischt und überlagert.

Anhand vieler Beispiele zeigt Rosenfeld, wie der Holocaust als Metapher für generelle ‚Viktimisierung‘ zu einem rein rhetorischen Element verkommen kann. Solche sprachlichen Verweise auf den Holocaust im Kontext von mehr oder weniger alltäglichen - wenn auch leidvollen - Erfahrungen nennt Rosenfeld „rhetorische Manipulationen“ (S 41). Der Terminus werde so verflacht und zu einem Allgemeinbegriff für das Böse: „Wenn jedes Vorkommen menschlichen Unglücks in einen weiteren ‚Holocaust‘ verwandelt wird, dann wird der Holocaust selbst immer weniger real und ist schließlich nur wenig mehr als eine rhetorische Figur“ (S. 139).

Rosenfeld beklagt ebenso das mangelnde Wissen vor allem der Amerikaner über die historischen Ereignisse, für die der Begriff Holocaust steht. Dies sei umso bedauerlicher, als es sogar fast sicher sei, dass die zukünftige Erinnerung daran „im hohen Maße durch die Rolle Amerikas, dann auch durch die Rolle Israels, Deutschlands und Polens bestimmt“ (S. 59) werden würde. So zeigten die Amerikaner zwar ein großes Interesse am Holocaust, seien jedoch „kulturell prädisponiert“ (S. 62) ihn ‚misszuverstehen‘, führt er weiter aus, da ihre Weltanschauung darauf basiere, im Wesentlichen „lebensbejahend und progressiv“ (S. 62) zu denken. Dies zeige sich etwa in Filmen wie „Schindlers Liste“ mit ihrem Erlösungsversprechen und dem Fokus auf ‚Überlebende‘ und ‚Retter’. So ändere man „den Kern der Erinnerung an den Holocaust in einer Art und Weise, die ziemlich sicher jede ernsthafte Einsicht in die Untaten der Mörder und in das Leiden der Opfer zunichte macht“ (S. 89), kritisiert er.

Immer wieder mischen sich in Rosenfelds sachliche Ausführungen und Analysen auch offen eingestandene Wut und Empörung. Bereits in der Einführung des Werks stellt er klar, dass er sich erhofft, dass das Buch auch dazu beitragen möge, ein „gewisses Maß an Entrüstung am Leben zu erhalten“ (S. 21). Seine Sorge ist, dass eine Zeit kommen könnte, „in der die Erinnerung an die jüdische Katastrophe unter Hitler auf den Status einer grausigen Horrorshow oder eines modernen Passionsspiels reduziert wird; in der das ungeheure historische und moralische Gewicht der Nazi-Verbrechen auf die vertrauten Kategorien einer Sonntagsschulpredigt oder eines konventionellen filmischen Kassenschlagers zurechtgestutzt wird“ (S. 18).
Sehr ausführlich setzt sich Rosenfeld daher auch mit dem Tagebuch von Anne Frank und den unterschiedlichen Interpretationen und (Miss)Repräsentationen des Werks auseinander. So seien etwa ‚Aneignungen‘ ihrer Geschichte und Übertragungen auf andere Kontexte, etwa das Erfinden einer „palästinensischen Anne Frank“ (S. 142),propagandistische Verwendungen der tragischen Erfahrung der Jüdin Anne Frank und gleichbedeutend mit Geschichtsfälschung.

Rosenfeld widmet sich in weiteren Kapiteln zudem Jean Améry, Primo Levi, Elie Wiesel und Imre Kertész und den vielfältigen Aspekten des Überlebens und der Zeugenschaft der Überlebenden. Im Epilog liefert er des Weiteren einen kurzen Exkurs zum neu aufkeimenden Antisemitismus und der Holocaust-Leugnung vor allem in vielen Teilen der muslimischen Welt. Die „Verwässerung, Entstellung und Leugnung der historisch gesicherten Tatsachen der Nazi-Verbrechen gegen die Juden“ (S. 248f.) könnten solche Tendenzen unterstützen oder heraufbeschwören, fürchtet er.

Seine Absicht mit dem Buch sei es gewesen, so schließt Rosenfeld seine Ausführungen, einige der „hervorstechenden Dimensionen und Konsequenzen“ (S. 244) des – teilweise natürlichen und unvermeidlichen – Wandels von Erinnerungen darzustellen, die zum ‚Ende des Holocaust‘ führen könnten. Dies ist ihm zweifellos gelungen. In seiner Analyse und Bewertung liefert er sehr wertvolle und äußerst beachtenswerte Denkanstöße, die einen entscheidenden Beitrag für den Diskurs um die Erinnerung und den Umgang mit dem historischen Ereignis des Holocaust nach dem Ende der Ära der Zeitzeugen leisten.