Marseille 1940
Die große Flucht der Literatur

Vom mühsamen und panischen Kriechen durch ein Nadelöhr. Zu einer erschütternden und aktuellen Monographie über Flüchtlinge in Marseille

Thomas Mann sprach von einem „wüste(n), traurige(n) und ungeheuer ominöse(n) Jux – auf dem Scheiterhaufen qualmte die Weltliteratur“: Am 10. Mai 1933 wurde in Berlin die offizielle Bücherverbrennung inszeniert. Vertreter der NS-Studentenschaft warfen „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“ ins Feuer; mehrere hundert Autoren kamen auf den Index.

An diesem Tag strich Adolf Hitler eine ganze Generation von Schriftsteller/INNEN aus dem Bewusstsein des deutschen Volkes. Als „entartete Kunst“ oder „Asphaltliteratur“ wurden die Bücher fast aller deutschsprachigen Autoren von Rang den Flammen übergeben. Die Bücherverbrennung wirkte über den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hinaus. Was in den zwanziger Jahren gedichtet und geschrieben wurde, blieb weitgehend vergessen, bis engagierte Forscher wie Jürgen Serke („Die verbrannten Dichter“; 1977; zahlreiche weitere Auflagen) oder Volker Weidermann („Das Buch der verbrannten Bücher“; 2008; und weitere Auflagen) uns Namen und Werke wieder nahe brachten. Die Liste „derjenigen Schriftsteller, die unter den Nazis diffamiert wurden, trägt Hunderte von Namen“, schreibt Serke. „So rigoros hat sich kein Volk von einer ganzen Literatur-Epoche trennen lassen, die in ihrer Hauptrichtung den Namen Expressionismus trägt. Es war jene Kunst, welche die Zerfallserscheinungen des Kapitalismus offen legte und die gegen eine Restauration kämpfte, die mit dem Nationalsozialismus in die Katastrophe führte.“

Vor allem Jüdinnen und Juden waren gefährdet und konnten nur schnellst möglichst Deutschland verlassen, um ihr Leben zu retten. Aber auch regimekritische Autoren, wie z. B. der pazifistische Würzburger Schriftsteller Leonhard Frank, waren den Machthabern verdächtig. Franks Protest gegen die Greuel des Ersten Weltkriegs, „Der Mensch ist gut“ (1918), machte den Autor unter den Nazis zur persona non grata; er wurde ausgebürgert. Um den Dienst an der Waffe zu entgegen, war Frank in die Schweiz geflohen. Dies war seine erste Emigration.

Die zweite erfolgte 1933 und würde ihn siebzehn Jahre im Exil bleiben lassen. In seiner romanhaften Autobiographie „Links wo das Herz ist“ (1955) beschreibt Frank die Folgen von Flucht und Exil für Spracharbeiter/INNEN: „Ob er jetzt alles, was er als Bohemien in den acht Hungerjahren ersehnt und dann durch schwere Arbeit im Laufe von zwanzig Jahren geschaffen habe, weggewischt sei – Herz und Sinn seines Lebens? Wird er jetzt selbst weggewischt in dem Lande seiner Sprache?“

Leonhard Frank gelang die Flucht; „schon den folgenden Tag wurden politische Flüchtlinge aus den Zügen geholt.“ „Im Sommer 1934 las er in der ‚Zürcher Zeitung‘, dass er ausgebürgert worden war wegen seines Antikriegsbuches ‚Der Mensch ist gut‘. Es war ein Schlag aufs Herz. Er stand mit der Zeitung auf der Straße. Die Brust war leer. Jetzt gehörte er zu dem durch die Jahrtausende stetig sich erneuernden Grüppchen der Geächteten, die auf ihre Weise den Preis bezahlen dafür, dass das Licht nicht verlösche. Und er wollte doch nur seine Arbeit tun.“ Der Fünfzigjährige hatte „ein Vierteljahrhundert in Berlin gelebt, das sein Arbeitsplatz gewesen war, seine gefühlsgeladene Werkstatt, sein Leben.“ Jetzt aber „gab es kein Zurück mehr. Dieses lähmende Bewusstsein begleitete ihn siebzehn lange Jahre Tag für Tag, ganz gleich, ob ihm dazu noch anderes Leid oder ob ihm Freude widerfuhr – unter allem war, beständig wie sein Atem, das drückende Gefühl, dass es kein Zurück mehr gab nach Deutschland, in seine Werkstatt, sein Leben, in seine Landschaft, mit der er sich eins fühlte, als wäre er ein Teil von ihr, ein Tal, ein Baum, der Fluß am Sommerabend. Sein Leben war nicht mehr sein Leben. Es war mitten entzweigebrochen.“

Als 1934 ihm zu Ehren in London ein Bankett abgehalten wird, wobei auch auf das Schicksal anderer emigrierter deutscher Schriftsteller hingewiesen wird, merkt Frank bald „an den nicht mißzuverstehenden Untertönen der Schadenfreude unter dem kalten Bedauern seiner früheren Bewunderer, dass der Schriftsteller, der sein Land nicht mehr hinter sich hat, an der Respektbörse in den Abgrund fällt wie ein schlechtes Wertpapier.“

1937 fuhr Leonhard Frank nach Paris. „Zu dieser Zeit lebten die Franzosen noch unbesorgt in den Tag (…), obwohl Deutschlands Aufrüstung seit vier Jahren in vollem Gange war.“ In Paris waren zahlreiche weitere Emigrant/INNEN. Anfangs glaubten sie, „Hitler würde sich nicht länger als ein paar Monate an der Macht halten können. Sie waren anfangs nur staunende und manchmal erheiterte Zuschauer einer brutalen Burleske, die da in Deutschland gespielt wurde und nicht ernst genommen werden konnte. Sie hielten es nicht für möglich, dass ein Volk mit der respektgebietend hohen Kulturtradition der Deutschen sich den Nazimethoden fügen werde, die trotz ihrer Ungeheuerlichkeit anfangs nur lächerlich wirkten (…).“ Thomas Mann indes sprach von Hitler als „dem Erwählten seines Volkes“. Er, der lange gezögert hatte, Deutschland zu verlassen, hatte die schauerliche Realität beim Namen genannt. Leonhard Frank, der eine jahrelange Herrschaft der Nationalsozialisten prophezeite, wurde belächelt.

Im Lauf der Jahre „war die Hoffnung der Emigranten, wieder in die Heimat zurückkehren zu können, (…) vergangen. Das Wort ‚entwurzelt‘ bekam seine grausamste Bedeutung. Die Emigranten gehörten nirgends hin und bekamen Tritte wie Hunde, die sich verlaufen hatten (…), und besonders wuchtige Tritte, wenn sie versuchten, im Gastland zu verdienen, was sie zum nackten Leben brauchten. Arbeiten war verboten und wurde hart bestraft, schließlich mit Ausweisung in ein Land, wo Arbeiten verboten war und hart bestraft wurde. Die Emigranten hatten ihr Leben gerettet, das vielen nicht mehr wert erschien, gelebt zu werden. Viele begingen Selbstmord.“

Stellvertretend für viele andere Schriftsteller/INNEN findet Leonhard Frank Worte für ihre Misere in der aufgezwungenen Fremde: „Der Kernschuß hatte den emigrierten Schriftsteller getroffen – die Arbeit am Lebenswerk war unterbrochen. Er musste erfahren, dass er ohne den lebensvollen, stetigen Zustrom aus dem Volk seiner Sprache und ohne die unwägbare stetige Resonanz der Leser als wirkender Schriftsteller nicht mehr existent war. Er spielte in der Emigration auf einer Geige aus Stein, auf einem Klavier ohne Saiten, und was er vor der Emigration geschrieben hatte, geriet im Lande seiner Sprache in Vergessenheit. Das Ergebnis und die Wirkung jahrzehntelanger Arbeit waren zerstört (…).“

Ich habe Leonhard Frank deshalb so ausführlich zitiert, weil er, in der Nußschale weniger Seiten, für die Angst, die Verzweiflung und Ohnmacht der Flüchtlinge intensive Worte findet: Worte, die heute wieder von bestürzender Aktualität sind. Das gilt auch für die Monographie Uwe Wittstocks über „Die große Flucht der Literatur“ (so der Untertitel) über die Situation der Flüchtlinge in Marseille. Marseille wurde seit 1940 zu einem Nadelöhr für bedrohte Menschen: Französische Soldaten, aber vor allem für Jüdinnen und Juden und für regimekritische Schriftsteller/INNEN; Leonhard Frank war nur eine unter vielen.

Uwe Wittstock, dessen lebendig und mitreißend geschriebener „Thriller“ über die Flucht aus dem Land der Mörder auf intensiver Recherche-Arbeit beruht, schreibt über das „dramatischste Jahr der deutschen Literarturgeschichte“. Denn die Deutschen fallen in Frankreich ein, was die Lage der Emigrant/INNEN (die sich lange in Sicherheit wähnten) von einem Moment auf den anderen radikal verändert. In seinem Vorwort versucht uns Wittstock die Dimensionen der Fluchtbewegung nahe zu bringen, die eigentlich jenseits jedes Vorstellungsvermögens sind: „Durch den Feldzug der deutschen Wehrmacht gegen Frankreich im Mai und Juni 1940 sahen sich acht bis zehn Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Es war ein Massenaufbruch (…) und vielleicht die gewaltigste Fluchtbewegung, die Europa jemals in einem so kurzen Zeitraum erlebt hat.“

Unter den Flüchtlingen „befanden sich Hunderte von Exilanten aus Deutschland und Österreich, die nach 1933 vor Hitler geflohen waren und in Frankreich Asyl gefunden hatten. Nun blieb ihnen nichts anderes übrig, als zum zweiten Mal alles zurückzulassen, Besitz, Wohnung, Beruf, Freunde, um sich vor den anrückenden Deutschen in Sicherheit zu bringen. Und der Autor versichert – dabei sind die Fakten ja hinlänglich bekannt, auch durch die Tagebücher, Berichte oder Briefe der Flüchtlinge: „Marseille 1940 berichtet von dem Drama dieser zweiten Flucht. Für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden.“ Die „Belege stammen aus den Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews einiger großer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Theaterleute, Intellektuelle, Künstler und Künstlerinnen.“ Neben diesem Personenkreis, den Spracharbeiter/INNEN „waren zahllose Unbekannte den gleichen Gefahren ausgesetzt, doch deren Lebensspuren gingen im Chaos von Krieg und Flucht verloren.“

Zugleich handelt Wittstocks Monographie „von einer Gruppe erstaunlicher Menschen, die unter erheblichen Gefahren versuchten, so viele Exilanten wie möglich aus der tödlichen Falle zu retten, zu der Frankreich für sie geworden war. Die Geschichte dieser Gruppe um den Amerikaner Varian Fry führt über einen größeren Zeitraum und etliche Länder zurück, bevor die Helfer schließlich 1940 in Marseille zusammenfanden.“ Die Vorgehensweise Wittstocks, uns diese bedrückenden Schicksale und die couragierten Retter/INNEN nahe zu bringen, ist so simpel wie einleuchtend: Wittstock nennt ein bestimmtes Datum und schreibt, was an verschiedenen Orten und mit unterschiedlichen Personen geschieht, eine Methode, die er bereits 2021 in seiner Monographie „Februar 33. Der Winter der Literatur“ (aber auch der März wird noch mit einbezogen) angewendet hatte: Ein einziger Monat entwickelte sich nach und nach in eine lebensgefährliche Peripetie für kritische Vertreter/INNEN des wahren Deutschland. Es war rasend schnell gegangen; in diesem Winter 1933 entschied sich für die Schriftsteller in Deutschland alles, wie Wittstock minutiös und detailliert berichtet.

Im Kapitel „Vorgeschichten. Zwei Tage im Juli 1935 Berlin, 15. und 16. Juli 1935“ wird uns ein wichtiger Fluchthelfer vorgestellt; er ist eigentlich nur zu Recherche-Zwecken nach Berlin gereist. Varian Fry, ein „viel versprechender Newcomer“ in der New Yorker Medienlandschaft, soll eigentlich Ende des Monats wieder in die UA zurückkehren, wo er die Chefredaktion von The Living Age, einer anspruchsvollen Monatszeitschrift, übernehmen soll. Ihm, einem politisch bewussten jungen Mann (er ist siebenundzwanzig Jahre alt), ist klar, worüber er vor allem schreiben will: „seiner Ansicht nach geht die größte Gefahr in der internationalen Politik von den faschistischen Regimen in Europa aus, von Italien, Österreich und vor allem von Deutschland. Also hat er mit dem Verleger von The Living Age vereinbart, erst einmal ein paar Wochen in Berlin zu verbringen, um sich ein eigenes Bild von Hitlers neuem Deutschland zu machen, bevor er die Arbeit in der Redaktion antritt. „Man muß kein Prophet sein, meint Fry, um zu erkennen, dass Hitlers politische Strategie letztlich auf einen Krieg hinausläuft. Es genügt, seine haarsträubenden Ankündigungen Wort für Wort ernst zu nehmen und die Augen nicht zu verschließen vor dem, was er den Menschen im eigenen Land antut.“ Doch in den USA haben nur wenige Menschen „den Mut dazu. Alle großen Zeitungen zwischen New York und Los Angeles berichten über die martialischen Aufmärsche der Nazis, die Aufrüstung des Militärs, die Verhaftungswellen, die Konzentrationslager. Aber sie ernten damit bei ihren Lesern kaum mehr als Schulterzucken. Europa ist weit weg, die Not der Great Depression im eigenen Land dagegen hautnah zu spüren.“

Varian Fry reist in wenigen Wochen quer durch Deutschland, führt „Dutzende von Interviews“ mit „Politkern, Wirtschaftsführern und Universitätsleuten, aber auch mit unbekannten Ladenbesitzern, mit Kellnern, Kirchenbesuchern und Taxichauffeuren“. Er lernt sogar Deutsch, „um einen direkteren Zugang zu dem Land zu finden“. Sein Plan: The Living Age „zu einer Alarmglocke zu machen, die selbst den taubsten und trägsten Amerikanerinnen und Amerikanern in den Ohren schrillt.“ Bald wird er persönlich in ein grauenhaftes und für das neue Regime bezeichnenden Geschehen involviert. Bei einem Abendspaziergang in Berlins Flaniermeilen hört er plötzlich Geschrei, splitterndes Glas, kreischende Bremsen. Er denkt zuerst an einen Unfall. Fry will helfen, stürzt los – und gerät mitten in eine Straßenschlacht: Junge Männer in weißen Hemden und schweren Stiefeln, schlagen, treten und misshandeln andere Menschen. „Jude! Ein Jude!“ oder „Tod den Juden!“, brüllen die Weißhemden und bedrohen Passanten. Sie holen angstvoll ihre Papiere aus den Taschen, um zu beweisen, dass sie keine Juden sind. Ein Mann rennt davon, die Verfolger hinter ihm her. „Fry steht im Tumult, fassungslos, niemand beachtet ihn.“ Er sieht einen verletzen alten Mann, dem niemand beisteht, im Gegenteil: er wird von der Menge bespuckt. Fry „sieht bebende, aufgelöste, von Tränen überströmte Gesichter. Er sieht Polizisten, Dutzende Polizisten, aber sie kommen den Geprügelten nicht zu Hilfe.“ Dann hört er einen Sprechgesang. Er versteht die Worte zuerst nicht. „Später findet er jemanden“, der ihm das Lied übersetzt: „Wenn der Sturmsoldat ins Feuer geht, / ei, dann hat er frohen Mut, / und wenn‘s Judenblut vom Messer spritzt, / dann geht‘s nochmal so gut.“ Fry flüchtet in eines der Cafés, dessen Fenster nicht zertrümmert wurden, und beobachtet die Straßenszene.

Es folgt eine Beschreibung des Charakters von Varian Fry. Seine Mutter war Dauergast in der Psychiatrie und konnte sich nicht um ihn kümmern. Offenbar hat diese Kindheit Spuren in ihm hinterlassen; er ist labil und leicht reizbar, er lebt in dem „Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, worauf er ein Anrecht gehabt hätte“. Dieser Mann, mit seinen Depressionen, mit seiner Widerborstigkeit (seine Kollegen in der Redaktion nennen ihn „Varian the Contrarian) wird es sein, der mithilft, mehrere hundert gefährdete Menschen aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten zu bringen, und er wird sich dabei mehr als einmal selbst in Gefahr bringen. Sein erstmals 1945 in New York veröffentlichter (und erst 1986 ins Deutsche gebrachter) Erfahrungsbericht „Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41“ gibt Zeugnis davon.

Der erste Teil der Monographie Wittstocks mit dem Titel „Le Désastre“ behandelt das Geschehen ab den 10. Mai 1940: Die Deutschen kommen mit Panzern durch die Wälder der Ardennen. „Die französischen Verteidiger werden von der Wucht des Angriffs vollkommen überrascht.“

14. Mai: Lion Feuchtwanger lebt in Sanary-sur-Mer noch weitab vom Kriegsgeschehen. (wie es den Emigrant/INNEN in Sanary-sur-Mer erging, ist auch Thema der 2022 veröffentlichen Arbeit von Magali Nieradka-Steiner „Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer“), doch was er im Radio hört, macht ihm Sorgen. „Die deutschen Truppen stürmen voran, die Franzosen und ihre britischen Verbündeten haben herbe Niederlagen hinnehmen müssen. Hitler, vor dem er nach Frankreich floh, ist im Begriff, das Land seines Exils zu erobern.“ Es folgt die Aufforderung an alle Deutsche und Österreicher „im Alter zwischen siebzehn und fünfundvierzig sowie alle Staatenlose dieses Alters, die in Deutschland und Österreich geboren wurden“, sich an einem bestimmten Sammelpunkt einzufinden. Sie sollen in ein Internierungslager verbracht werden. „Die französische Regierung sieht in ihnen potentielle Sympathisanten der Nazis (…). Feuchtwanger kennt diese Vorsichtsmaßnahme nur zu gut. Als Frankreich und Großbritannien vor acht Monaten Deutschland den Krieg erklärten, weil es Polen überfallen hatte, wurde er schon einmal interniert. Eine groteske Schikane.“ „Natürlich wäre es klüger gewesen, schon vor ein oder zwei Jahren Frankreich zu verlassen und sich irgendwo in Amerika in Sicherheit zu bringen. Nach dem Anschluß Österreichs an Deutschland und nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitler war die Kriegsgefahr in Europa mit Händen zu greifen. Thomas Mann zögerte nicht, als ihm eine Professur in Princeton angeboten wurde.“ Es fiel Feuchtwanger schwer, seinen neuen Arbeitsplatz (er arbeitet an seinem jüngsten Roman, „Exil“) zu verlassen; „Sanary war sein Paradies“. Les Milles aber ist eine alte, stillgelegte Ziegelei, „es gibt keine Betten, keine Möbel, keinen Winkel Privatheit“.

Es folgt der 15. Mai und was an diesem Tag geschah. In Paris fährt Hannah Arendt mit der Metro. Sie kämpft mit den Erfahrungen, „die sie in den Wochen nach Hitlers Machtübernahme an den Universitäten gemacht hat“. Freunde wandten sich von der Jüdin ab, bekannten sich zu den neuen Machthabern. „Sie wollten ihre Karrieren nicht gefährden.“ Hannah Arendt lernt Walter Benjamin kennen, der sich unbeholfen durchs Leben schlägt. Arendt und andere Jüdinnen werden ins Vélodrome d`Hiver gepfercht. Das Ziel ist Gurs.

Am 16. Mai trifft Varian Fry in New York einen neuen Mitarbeiter: Karl Frank, der sich, um seine Familie zu schützen, einen Tarnnamen zugelegt hat: Paul Hagen. Er kennt die Lage der Exilant/INEN in Europa genau. Darum hat er eine Untergrundbewegung gegründet. Er arbeitet sogar mit falschen Papieren. In New York gründet er eine neue Widerstandsgruppe, die sich „American Friends of German Freedom“ nennt. 1940 ist für Polen ein grauenhaftes Jahr: Die Deutschen sind mittlerweile dazu übergegangen, „nicht nur die Widerstandskämpfer umzubringen, sondern die gesamte Elite des Landes, Ärzte, Lehrer, Kaufleute, Politiker, Ingenieure – weiterleben soll nur ein Volk von Arbeitssklaven.“ Hagen kennt vor allem die Situation in Frankreich, wo zahlreiche Flüchtlinge gestrandet sind und nun akut bedroht: „gefeierte Maler wie Marc Chagall oder Max Ernst, weltberühmte Schriftsteller wie Heinrich Mann, Franz Werfel und Lion Feuchtwanger oder Anna Seghers, Alfred Döblin und Walter Mehring.“ Sie alle sind in Gefahr, „in den nächsten Wochen ermordet zu werden“. Die Zeit drängt: Varian Fry und seine Helfer/INNEN beginnen Rettungspläne zu entwerfen.

Im Abschnitt „Abbeville, 20. Mai 1940“ wird erklärt, warum die deutschen Panzertruppen mit derartigem Tempo vorwärts stürmen. Es gibt „einen pharmazeutischen Grund: Seit 1938 stellt das Chemiewerk Temmler in Berlin ein hochwirksames Aufputschmittel her: Pervitin. Es ist ein Methamphetamin, das jedes Schlafbedürfnis ausschaltet, die Angst dämpft und sowohl die Konzentrationsfähigkeit wie auch das Selbstbewußtsein steigert. Die perfekte Droge für den Kriegseinsatz. (…) Pervitin macht einen mehrtägigen Vormarsch ohne Schlafpause möglich. Es verschafft den Deutschen enorme strategische Vorteile und trägt ihnen den Ruf übermenschlicher Leistungsfähigkeit ein. Nur zehn Tage nach Beginn der Kampfhandlungen befindet sich Frankreich am Rande einer Niederlage.“ Panik bricht aus.

Die nächsten Monate werden für die Flüchtlinge aus Deutschland, aus Österreich, dann Frankreich zur Zitterpartie. Etlichen gelingt es, zu entkommen. Viele stranden in Marseille. Die meisten, die zu Varian Fry ins Büro kommen, sind „mit ihren Kräften am Ende. Sie haben Monate in Internierungslagern zugebracht, verstecken sich unter entsetzlichen Bedingungen in irgendeinem Schlupfwinkel, besitzen nur noch, was sie am Leib tragen, und wissen nicht, wovon sie leben sollen. Wenn jemand an Frys Zimmertür klopft, schrecken sie zusammen, weil sie glauben, im nächsten Augenblick verhaftet und der Gestapo ausgeliefert zu werden.“ Marseille ist für viele das Warten auf den Tod. Lassen wir wieder Leonhard Frank zu Wort kommen, der ebenfalls in Marseille strandete, nachdem er neunundzwanzig Tage unterwegs gewesen war, nach der Flucht aus dem Lager „und vom Atlantischen Ozean durch die deutsche Armee ans Mittelmeer“: ein „abenteuerreiches, anstrengendes Vergnügen (…), verglichen mit der Behandlung der Emigranten durch die deutsche Polizei in Marseille.“ Frank sagte „sich damals, dass er nicht imstand sein würde, den unaufhörlichen Wirbel entnervender Bedrohungen, die Höllenqualen der verängstigten und vollständig rat- und hilflosen Emigranten glaubwürdig zu schildern. Die Gefängnisse waren überfüllt. Die Polizei unternahm jeden Tag und jede Nacht Razzien, und dann waren jedesmal Emigranten verschwunden, die nie mehr gesehen wurden. Irgendetwas hatte in ihren Ausweispapieren gefehlt, eine Bestätigung, ein Stempel oder ein Entlassungsschein des Lagerkommandanten – ein Papier, das der Emigrant, der vor den Deutschen aus dem Lager geflüchtet war, gar nicht haben konnte.“ Als das Gerücht umging, dass die Deutschen „schon im Anmarsch seien, um auch Südfrankreich und somit auch Marseille zu besetzen, (…) steigerte sich auch die Angst der entnervten Emigranten ins Ungemessene, da sie aus Frankreich nicht ausreisen durften. Jeder hatte sich das spanische und portugiesische Durchreisevisum und irgendein exotisches Endvisum verschafft. Aber die französische Behörde gab das Ausreisevisum nicht. Sie gab es nicht. Ein Grund dafür war nicht zu ermitteln, da es einen verständlichen Grund nicht gab. (Als die Deutschen später auch Südfrankreich besetzten, übergab die französische Polizei der Gestapo Tausende Emigranten, Männer, Frauen, Kinder, die in den Öfen von Auschwitz endeten. Sie wären nicht ermordet worden, auf diese entsetzliche Weise, wenn die französische Behörde ihnen die Ausreisevisa gegeben haben würde.) Aus diesem Ring des Todes brach schließlich eine Anzahl Emigranten aus“, unter ihnen auch Leonhard Frank. Sie „überquerten ohne Ausreisevisa zu Fuß die französisch-spanische Grenze in den Pyrenäen. Viele wurden schon auf dem Weg zur Grenze verhaftet“(wie Walter Benjamin, der sich daraufhin das Leben nahm), „in den Bahnhöfen, in den Zügen, viele an der Grenze. Viele zogen der Rückkehr in die Hölle von Marseille den Tod vor und begingen Selbstmord, einen Schritt entfernt von der Freiheit.“

In seinem Bericht „Auslieferung auf Verlangen“ beschreibt auch Varian Fry die Situation und die Panik der Flüchtlinge: „Die spanische Grenze war geschlossen, kein Schiff lief mehr von Marseille aus (…): das sah wirklich wie das Ende aus. Nicht einmal mehr über das Mittelmeer kann man ohne Sondergenehmigung, und die wurde Ausländern fast nie und Franzosen auch nur dann gewährt, wenn sie einen Posten in Vichy bekleideten. Jetzt, so schien es, saßen die Flüchtlinge wirklich in der Falle. Sie saßen in Frankreich fast wie Vieh in einem Schlachthaus. Die Gestapo brauchte nur zu kommen. Es gab keine Fluchtmöglichkeiten mehr.“ Ab und zu wurde die spanische Grenze geöffnet, manchmal nur für Stunden: reine Willkür, „und man „kann sich kaum etwas Grausameres ausdenken, um Menschen zu quälen. Jedes Öffnen der Grenze erweckte neue Hoffnungen, die durch jedes neuerliche Schließen wieder zerstört wurden.“

In Lissabon bekam Frank das amerikanische Visum durch die Vermittlung des Emergency Rescue Committee, „das Franklin Delano Roosevelt gegründet hatte zu dem Zweck, bekannte europäische Wissenschaftler und Künstler vor dem Zugriff der Nazis zu retten.“ Was er nicht erzählt: ein durch Varian Fry übermitteltes amerikanisches Affidavit und ein tschechischer Paß ermöglichen ihm die Rettung. Leonhard Frank betrat sein rettendes Schiff in die USA am 9. Oktober 1940.

Wittstocks Bericht geht noch bis zum Oktober 1941 weiter. Fry verfällt in eine Depression. Geschätzt wird, dass sich im Lauf von 1940 „weit über 15 000 Menschen bei ihm gemeldet haben“. Doch Fry fühlt sich schuldig. Hätte er sich mehr bemühen sollen? Im Nachwort zieht Wittstock eine Bilanz – eine Bilanz des Grauens: „Die Geschichte einer Massenflucht von acht bis zehn Millionen Menschen ist größer als jedes Buch, das von ihr erzählt. Schon allein die Geschichte der deutschen und österreichischen Exilanten, die sich damals zu Tausenden den Flüchtlingstrecks anschlossen, ist so komplex, dass sie den Rahmen jeder überschaubaren Darstellung sprengt. Wer davon erzählen will, muß sich auf das Beispiel Einzelner beschränken. Doch das verfälscht das historische Bild. Neben jeder Person, die in diesem Buch erwähnt wird, standen Hunderte oder Tausende andere, die das gleiche Recht hätten, in Erinnerung gebracht zu werden.“ Oder, um es mit Walter Benjamin zu sagen: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ Oder, Edmond Jabés: „Alle Buchstaben bilden die Abwesenheit.“

Jürgen Serke konnte 1977 noch mit dem alten und kranken Walter Mehring sprechen (dessen dramatische Rettung Varian Fry ebenfalls ausführlich beschreibt). Er berichtet, dass Mehrung drei Jahrzehnte an einem Roman über das Leben im Exil geschrieben habe. „800 Seiten in Handschrift. Sie sollten im Bertelsmann-Verlag erscheinen. Anfang 1976 gingen sie verloren. ‚Die schlimmste Katastrophe meines Lebens‘, sagt er, der sein Leben lang in Katastrophen gelebt hat.“ Eine Erkrankung zwang ihn in eine andere Unterkunft. Der Koffer, der ihm nachgeschickt wurde, war nicht sein eigener. Das Manuskript blieb verschollen.

Vielleicht hat Uwe Wittstock den Roman des Exils geschrieben. Nicht so, wie Mehring ihn geschrieben hätte, aber doch auch an seinem Schicksal ganz nah dran.

Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41. Carl Hanser Verlag, später Fischer Taschenbuch Verlag (Random House), München 1986, dann Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1995 (New York 1945).