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Juden in Thüringen - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Juden in Thüringen
Vom Kaiserreich bis zum Ende der DDR

Das von der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung herausgegebene Buch von Rainer Borsdorf liefert einen knappen und informativen Überblick über die Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen von 1871 bis 1990. Darin verknüpft der Autor die allgemeine Entwicklung jüdischen Lebens in ganz Deutschland eng mit der Geschichte in Thüringen.

Borsdorf widmet sich einem sehr breiten Themenspektrum. Er behandelt nicht nur die in solchen Überblicksdarstellungen üblichen Themen wie Emanzipation, Antisemitismus und Shoah, sondern auch sonst eher selten ausgeführte Themenbereiche wie das Alltagsleben und kulturelle Aktivitäten in jüdischen Gemeinden. Für den besonderen Blick auf Thüringen wichtig ist auch die Vorstellung einzelner Gemeinden in Thüringen und die Leistungen einzelner Personen in Wirtschaft und Politik.

In seiner Darstellung wirtschaftlicher Aktivitäten dominieren die Bereiche großer Erfolge im späten 19. Jahrhundert. Sie zeigen die Fähigkeit der betreffenden Personen, gegebene Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen sowie den wichtigen Anteil der jüdischen Bevölkerung an Thüringens Weg in die Moderne. Das positive Bild, das Borsdorf für das Kaiserreich zeichnet, ergänzt er durch den Hinweis, dass die jüdische Bevölkerung stark unter den ökonomischen und sozialen Krisen der 1920er Jahre litt, und dass nur ein geringer Anteil zur gesellschaftlichen Elite gehörte. Das ist eine wichtige Ergänzung, denn der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ging es in der gesamten Zeit ökonomisch bei Weitem nicht so gut, wie eine Konzentration auf erfolgreiche jüdische Lebensgeschichten suggerieren könnte.

Wichtig ist auch der Hinweis auf die große Bedeutung der Familie für das Leben der jüdischen Bevölkerung, die in Zeiten antisemitischer Anfeindungen einen sicheren Rückhalt boten. Das zeigt, wie sehr der Verlust der Familienmitglieder durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik die Überlebenden schmerzen musste. Zudem beschränkt sich Borsdorf bei der Darstellung nationalsozialistischer Verfolgung nicht auf die offiziellen Schritte der Ausgrenzung und Verfolgung, sondern er legt den Fokus auf deren Auswirkungen auf das Alltagsleben und er benennt die wichtigsten Täter nationalsozialistischer Verfolgungspolitik in Thüringen.

Die Geschichte jüdischen Lebens in der SBZ und in der DDR bleibt leider nur skizzenhaft ausgeführt. Da bisher nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Periode jüdischer Geschichte in Thüringen vorliegen, stellt Borsdorf die allgemeine Situation und Entwicklung in DDR stellvertretend für die Thüringer Geschichte dar.

Angesichts dieses Mangels wissenschaftlicher Forschung für die Zeit nach 1945 verwundert es, dass Borsdorf die aktuellen Untersuchungen Stefan Hellmuths zum Thüringer „Wiedergutmachungsgesetz“ nicht berücksichtigt. Ebenso sind noch einige weitere Lücken zu konstatieren, wie die Nichterwähnung der Arbeiten von Monika Gibas zur ‚Arisierung‘ sowie des 2022 publizierten digitalen Gedenkbuch für Thüringen. Von diesen Lücken abgesehen hat Rainer Borsdorf mit seinem kleinen Buch jedoch einen hilfreichen Überblick und Einblick zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen von 1871 bis 1990 vorgelegt.