Have you seen my little sister?

'Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.' Mit dieser unmißverständlichen Prämisse begann Theodor W. Adorno (1903-1969) seinen am 18. April 1966 im Hessischen Rundfunk gesendeten Vortrag Erziehung nach Auschwitz, in dem er mit Vehemenz gegen die 'Vormacht aller Kollektive' angeht und eine 'Entbarbarisierung' der deutschen Gesellschaft fordert, da die 'Wiederkehr oder Nichtwiederkehr des Faschismus im Entscheidenden keine psychologische, sondern eine gesellschaftliche Frage ist.' Das Mittel, mit dem Adorno diese Entbarbarisierung erreichen und eine Wiederkehr des Faschismus verhindern wollte, war Erziehung - Erziehung zur Mündigkeit (Frankfurt: Suhrkamp 1971), wie er es dann später nannte. An der unbedingten Gültigkeit von Adornos Prämisse und seiner konsequenten Forderung an Erziehung hat sich bis heute nichts geändert. Ihre Botschaft ist klar: Erziehung zur Mündigkeit ist eine 'Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand'. Widerstand meint hier vor allem Widerstand gegen blinden Gehorsam und Obrigkeitshörigkeit, und Erziehung meint hier vor allem Erziehung zur Selbständigkeit, die mit konsequenter Aufklärung über den Holocaust einhergeht. Selbständigkeit oder besser gesagt: Mündigkeit meint hingegen die Forderung nach sowie die zugehörige Förderung der Autonomie des Individuums unter der Adorno in Anlehnung an Immanuel Kant (1724-1804) 'die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen' versteht.

Diese Idee des Nicht-Mitmachens bei der Konformität der Kollektive, welche Adorno in seinem Erziehungsauftrag formuliert hat, und seine damit verbundene Forderung 'daß Auschwitz nicht noch einmal sei', hat seit den späten 60er Jahren an unglaublicher Eigendynamik gewonnen: Beide Elemente waren nicht nur wesentliche Merkmale der Studentenunruhen von 1968 - erinnert sei hier vor allem an das Motto: 'Unter den Talaren der Muff von Tausend Jahren!' - sondern haben auch danach noch - und bis heute - den öffentlichen und politischen Diskurs über die deutsche Vergangenheit und deren Gegenwart ganz wesentlich mitbestimmt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß Adorno auch die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust stark verurteilt hat: 'Es ist barbarisch nach Ausschwitz Gedichte zu schreiben.' Die Aufklärung über und die Erinnerung an den Holocaust ist mittlerweile nicht mehr wegzudenken als wesentliches Element aller Schul- und Universitätslehrpläne sowie beinahe aller anderen Bereiche des öffentlichen Lebens in Deutschland. Adornos Schriften und ihre Wirkung trugen ihren Teil zu dieser Entwicklung bei und finden sich deshalb auch heute noch oft als Bezugspunkte in aktuellen Beschäftigungen mit diesem Thema wieder, da seine Prämisse beinahe als Leitmotiv für alle Diskussionen über die Shoah gelten könnte.
Die jüngste Beschäftigung mit dem Holocaust und ihre pädagogische Vermittlung nimmt mittlerweile jedoch sehr vielfältige Formen an und beschränkt sich schon lange nicht mehr nur auf die - ohne Zweifel sehr wichtigen - wissenschaftlichen und historischen Untersuchungen der Ereignisse, sondern hat erfolgreich Einzug in die verschiedensten kulturellen Vermittlungstechniken gehalten. Zwei Gattungen, die sich in den letzten Jahren immer stärker als pädagogisch wertvolle Mittel der Aufklärung über den Holocaust erwiesen haben, sind die Literatur und der Film. Beispielhaft sei diese Entwicklung hier an wichtigen Elementen der Definition des Begriffs 'Holocaust-Literatur' und anhand einer kurzen Besprechung des Bildungsauftrags des fünften jüdischen Filmfestivals, welches in der Zeit vom 10.-25. November 2001 im südenglischen Brighton stattgefunden hat, dargestellt.
In seinem vor zwei Jahren herausgegebenen Band Holocaust-Literatur Auschwitz (Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2000) weist Sascha Feuchert auf eine Entwicklung hin, die sich in der Holocaust-Forschung seit einigen Jahren abgezeichnet hat: 'Seit einiger Zeit hat sich der Begriff ‚Holocaust-Literatur‘ - aus dem Amerikanischen kommend - als eine Art Genrebezeichnung etabliert für eine Vielfalt von Texten zum Thema ‚Holocaust‘, welche die klassischen Gattungsgrenzen zwischen Epik, Lyrik und Drama überschreiten' (S. 2). Um die besondere literarische Form dieser Texte zu verdeutlichen, hat der Herausgeber 20 Textausschnitte aus den Werken ebenso vieler Autoren, die sich in irgendeiner Form mit dem Holocaust befassen, in seinem Buch versammelt. Für den richtigen Umgang mit dieser Gattung der Literatur ist nach Feuchert vor allem die Definition ihrer literarischen Form wichtig, da es Texte sind, 'die das Geschehen vermitteln wollen, indem sie z.B. Tropen benutzen, auf Archetypen zurückgreifen und das Geschehen (in Sinn suggerierender Weise) anordnen, ohne dabei wissenschaftlichen Kriterien und Konventionen zu folgen. Die Texte sind indes jeweils - im weiteren Sinne - ‚subjektive‘ Interpretationen des Holocaust und keine wissenschaftlichen ‚Metadokumente‘. Zu diesen Texten können neben Tagebüchern und Chroniken, die zur Zeit des Geschehens entstanden, auch Memoiren und Erinnerungen, die nach den Ereignissen von Betroffenen verfaßt wurden, wie auch fiktionale Bearbeitungen (Romane, Gedichte, Dramen), die den Holocaust zentral behandeln, gehören' (S. 23). In der Definition des Begriffs Holocaust-Texte geht beispielsweise der amerikanische Literaturwissenschaftler James Young mit den theoretischen Betrachtungen in seinem Buch Beschreiben des Holocaust (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997) allerdings noch einen Schritt weiter, da er ihn sehr weit faßt 'so daß nicht mehr nur Tagebücher, Memoiren, fiktionale Literatur, Dramatik und Lyrik, sondern eine Auswahl filmischer Zeugnisse sowie bestimmte Gedenkstätten und Museen unter diese Kategorie fallen' (S. 235). Es ist besonders die von Young vorgeschlagene Ausweitung des Begriffs, die für uns hier von besonderem Interesse ist, da sie zu verdeutlichen hilft, daß der Zugang, den diese 'Texte' zum Thema Holocaust vermitteln, ein ganz anderer ist als der rein wissenschaftliche, da die Interpretationsleistung, die der Leser zu leisten hat, als viel intensiver angesehen werden muß. Als erfolgreiches Mittel der Aufklärung und Erziehung nach Auschwitz dienen diese Texte daher ohne Zweifel, zumal sie einen völlig authentischen und zugleich fordernden Zugang zu den Fakten und Ereignissen des Holocaust ermöglichen.
Eine ähnlich intensive Interpretationsleistung wie die Texte der Holocaust Literatur verlangt auch die Auseinandersetzung mit den vielen in den letzten Jahren gedrehten Filmen, die sich sowohl in fiktionaler, wie auch in dokumentarischer Form mit der Shoah auseinandersetzen. Hier wirkt jedoch im Gegensatz zu den Texten und der darin enthaltenen Kraft der Worte in erster Linie die Macht der Bilder als erzieherische oder aufklärerische Komponente. Wichtig ist deshalb, daß diese Filme in einem geeigneten Rahmen gezeigt werden, der deutlich macht, daß es hier nicht um einen gewöhnlichen Kinobesuch oder Fernsehabend geht, da er gleichzeitig ein Diskussionsforum für das gezeigte bietet. Am besten gelingt dies natürlich auf Filmfestivals. Mit viel Erfolg wurde dies, wie auch in den Jahren zuvor, auf dem fünften jüdischen Filmfestival von Brighton im Herbst 2001 - einem von ca. 70 jüdischen Filmfestivals weltweit - erreicht. Dort wurde an 15 Tagen zu 25 verschiedenen Veranstaltungen mit insgesamt 40 Filmbeiträgen (die sowohl durch Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilme repräsentiert wurden) und einigen Podiumsdiskussionen eingeladen. Den Bildungsauftrag des Festivals begreift die Festivaldirektorin Judy Ironside als einen von 'Aufklärung und Unterhaltung zur gleichen Zeit', der es zum Ziel hat, einem möglichst breiten Publikum 'die Geschichte und Entwicklung der verschiedenen jüdischen Kulturen weltweit' näherzubringen. Dies diene nicht zuletzt auch einem Angehen gegen die Vorurteile, die der Antisemitismus zu verantworten habe, da diese Vorurteile nur durch Begegnung und Information wieder abzubauen seien.
Um ihrem Publikum ein möglichst ausgewogenes Bild jüdischer Filmkunst zu bieten und um zu zeigen wie unterschiedlich jüdische Filmemacher weltweit mit den Fragen ihrer Identitätsfindung und kulturellen Zugehörigkeit umgehen, widmeten sich die 40 Filme des Festivals daher auch den unterschiedlichsten Aspekten jüdischer Geschichte und Gegenwart, wobei die filmische Auseinandersetzung mit dem Holocaust in jedem Jahr einen eigenen Schwerpunkt der Veranstaltung bildet. Im vergangenen Jahr gab es unter anderem auch zwei deutsche Beiträge, die aber leider als sehr mißlungen gelten müssen: Der erste Film war Kai Wessels Goebbels und Geduldig (Deutschland 2001), der in Deutschland noch keinen Filmverleih gefunden hat und zu Recht vielleicht auch nie einen finden wird, da er eine völlig mißlungene Verwechslungskomödie ist, bei der einem das Lachen schnell im Halse stecken bleibt. Der andere war Suso Richters Nichts als die Wahrheit (Deutschland 1999), der auch keineswegs unproblematisch ist und einen fiktiven Mengele Prozeß in Deutschland beschreibt. Beide Filme wurden mit heftiger Kritik in Brighton aufgenommen, zeigen aber zugleich auch, wie krampfhaft und letztlich auch erfolglos man hierzulande versucht, Abstand zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs zu gewinnen. An der völlig unreflektierten Auseinandersetzung der beiden Filme mit dem Holocaust wird jedoch deutlich, daß Adornos Kritik an jeglicher Form der künstlerischen Beschäftigung mit der Shoah nicht gänzlich unberechtigt ist. Andere Filme, wie etwa Elida Schogts Zyklon Portrait (Kanada 1999), der als Kurzfilm über den Holocaust ganz ohne Bilder und Aufnahmen des Holocaust auszukommen versuchte, beschäftigten sich zumeist mit ganz speziellen Ereignissen oder Folgen der Shoah.
Die filmische Beschäftigung mit dem Holocaust während des Festivals ist aber nur eine Form, in der sich die Veranstalter diesem komplexen Thema nähern, denn das ganze Jahr über veranstalten sie Diskussionsforen und andere Events zum Gedenken an den Holocaust. Dabei sollen Veranstaltungen wie der Holocaust Education and Film - Special Event Schülern und Lehrern im Rahmen des Festivalbildungsauftrags helfen, anhand von Filmen und speziellen Vorträgen einen Zugang zum Holocaust und seiner aktuellen Bedeutung zu finden. Diese Veranstaltung findet in der Regel im jüdischen Gemeindezentrum Brightons statt und beginnt mit einem kurzen Vortrag über den Verlauf des Zweiten Weltkrieges und den Anfang des Holocaust. Daran schließt sich dann ein Dokumentarfilm über den Holocaust an, der auf Grund seiner sehr drastischen Bilder und Originalaufnahmen aus den befreiten KZs in Deutschland und Polen eine starke Wirkung auf den Zuschauer erzielt. Anschließend hielt dann im vergangenen Jahr Janina Fischler-Martinho, die als Kind während der Liquidierung des Krakauer Ghettos mit ihrem Bruder durch die Kanalisation fliehen konnte und dann, von ihm getrennt, als 'arisches Waisenkind' getarnt, auf dem Land als Hilfsarbeiterin den Krieg überlebte, einen bewegenden Vortrag über ihre Erfahrungen. Bis auf ihren Bruder, mit dem sie am Ende des Krieges in Krakau wieder zusammen traf, ist ihre ganze Familie von den Nationalsozialisten ermordet worden. Lange hat Janina Fischler-Martinho über ihre Erfahrungen während des Nazi-Terrors nicht gesprochen, doch Ende der 90er Jahre wollte sie für ihr Enkelkind Zeugnis ablegen und schrieb ihre Erfahrungen in ihrem Lebensbericht Have you seen my little sister? nieder. Seit dieser Zeit sucht sie auch intensiv die Begegnung mit ihren meist jugendlichen Zuhörern. Über die Überwindung, welche sie diese Konfrontation mit der Vergangenheit gekostet hat, schreibt sie: 'Vor vielen Jahren, genaugenommen vor einem halben Jahrhundert, habe ich einen Schleier des Schweigens über bestimmte Ereignisse in meinem Leben gelegt. Ich schloß ein stillschweigendes Abkommen mit meinem Unterbewußtsein leise zu sein, zu ruhen. Ich wollte seine dunklen Gänge und Abgründe nicht erkunden aus Angst jenen unglaublichen Verlust, d.h. den Verlust meiner Eltern, meines Bruders und schließlich meiner ganzen Familie, konfrontieren zu müssen. [...] Obwohl in der Zwischenzeit soviel Zeit vergangen ist, hat der Schmerz dieses Verlustes niemals nachgelassen. Erst heute, wo die Sanduhr meines eigenen Lebens auszulaufen scheint, habe ich den Mut gefunden, diese dunkle Vergangenheit und diesen tragischen Verlust ans Licht zu holen, auf daß ich die Fakten sammeln, die Erinnerungen sortieren und die Eindrucke verarbeiten kann, die durch diese Erinnerung wohlerhalten und intakt, an die Oberfläche gekommen sind, geradeso, als ob die Zeit selbst eine Ruhepause eingelegt hätte in den letzten fünfzig Jahren' (vgl. S. 18). An der Reaktion des Publikums und dem Erfolg des Buches läßt sich leicht erkennen, wie wichtig und unverzichtbar diese Form der Aufklärung über den Holocaust heute ist.