Im Dienst der Gemeinschaft
Zur Ordnung der Moral in der Hitler-Jugend

Der Autor lässt hier eine „Moralgeschichte“ (S. 21) zum Verständnis der Hitler-Jugend (HJ) abrollen, der Jugendorganisation schlechthin des NS-Regimes, dem oft genug ‚Moral‘ überhaupt abgesprochen wurde und dessen Erforschung deshalb auch in diesem spezifischen Zusammenhang „Lücken“ (S. 78) aufweist.

Relativ komplex stellt Gloy dabei auf „eine Analyse der moralischen Codierung von Begrifflichkeiten und Thematisierungen sowie den damit verbundenen Wissens-, Macht- und Subjektivierungseffekten“ (S. 128) ab, den „interdiskursiven Verknüpfungen und ihren Auswirkungen auf die Konstitution der Subjekte“ im „Kontext des nationalsozialistischen Moralsystems“ (S. 79). Ausgiebig bedient er sich dabei der „Theoriebildung des Poststrukturalismus“ (S. 332; J. Butler, M. Foucault, N. Luhmann etc.); entsprechend schlägt sich diese in den Kapitelüberschriften seiner eigentlichen Quellenanalyse (einer laufend publizierten ‚Schulungsbroschüre der HJ) etwa in ‚Formation der Gegenstände‘ und ‚Formation der Begriffe‘ nieder. Mehr als die Hälfte des Inhalts nehmen gar die theoretischen Vorannahmen ein, vor allem im diskutierten Wechsel von Ablehnungen sowie ‚kritischen Würdigungen‘ jener Vorläufer, die zur ‚Frage der Moral im Nationalsozialismus‘ maßgeblich gearbeitet haben.

Solcherart unterstreicht Gloy die Brisanz seiner Studie zur HJ, die schon dadurch gegeben ist, indem diese „sich 1939 zur Staatsjugend mit Alleinvertretungsanspruch und mehr als acht Millionen Mitgliedern und einer Erfassungsquote von 85 Prozent der Jugendlichen entwickelt“ (S. 162) hatte.

Sein Ergebnis: Für Gloy projektierte die „HJ-Moral“ nicht, eine subjektive durch eine gesellschaftliche Moral zu ersetzen, vielmehr „eine spezifische moralische Identität im Prozess der Subjektivierung individuell zu verankern – eine moralische Identität also, die im Wesentlichen als innengeleitet bezeichnet werden könnte“ (S. 334).

Zu diesem Resultat kommt der Verfasser in der (partiellen) Übernahme von Theorieelementen oben genannter Autorin und Autoren, deren Gültigkeit nicht unbedingt überzeugen muss; z.B. die Adaption der Ineinssetzung von ‚Geschlechtsidentität‘ und ‚moralischer Identität‘ in der Version Judith Butlers (vgl. S. 138). Bestenfalls beweist Gloy die Anwendungsfähigkeit der Theorien, nicht zwingend jedoch deren besondere Ergiebigkeit in diesem Kontext.

Dabei überfordert er oft mit einer äußerst dicht aufeinander folgenden Darbietung erwähnter Theorieelemente die Leserschaft, die im Übrigen selbst entscheiden kann, ob die Anwendung der Theorien tatsächlich „Neues hat erkennen lassen“ (S. 334): zum Beispiel die Produktion von ‚Feinden‘ (vgl. S.214); die Ausblendung von „destruktiven und irrationalen Antrieben“ in der „symbolischen Ordnung der Moral“ (S. 327).

Vermerkt Gloy, dass „Aspekte des moralisch geforderten Verhaltens systematisch dethematisiert“ (S. 327) worden seien, bleibt auch er sie schuldig. Zwar resümiert er, dass in den regelmäßigen Unterweisungen der Schulungsbroschüre: ‚Die Kameradschaft. Blätter für Heimatabendgestaltung in der Hitler-Jugend‘ „unablässig zur Selbstbefragung angehalten“ wurde, „mit welchem konkreten Engagement der Gemeinnutz zu fördern oder zu steigern sei“ (S. 334), erwähnt jedoch nicht, wovon dabei abgelenkt wurde: die Umlenkung sexuellen Begehrens auf sportliche Ertüchtigung; davon, dass viele dem HJ-Alter bereits entwachsen waren und als lebende Vorbilder, Erzieher mit eigenen Interessen fungierten.

Jedenfalls kann einem das oben zitierte Ergebnis des Autors als der keineswegs außergewöhnliche Versuch zur Zurichtung der Jugend im Sinne einer Verinnerlichung von Werten (schematisch dargestellt auf S. 325/326) erscheinen, die genau den erwachsenen, das Regime tragenden Menschen nützten: Mit der Engführung von individuellen und Wünschen der konstruierten ‚Gemeinschaft‘ sollten dann die Heranwachsenden ‚im Dienst‘ der Faust des Staates auf (vermeintlich) eigene Faust handeln; ganz „ohne Befehl“ (S. 79).

Ob beabsichtigt oder nicht, wird von Gloy die Jugend der Hitler-Jugend hier wohl eher deskriptiv, als ‚gebraucht‘, denn normativ, als ‚missbraucht‘ dargestellt.