Vorwelten und Vorzeiten
Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit

Mit der Entdeckung von Bodenfunden und architektonischen Strukturen der Vor- und Frühgeschichte sowie der Römerzeit öffnete sich für die Menschen des 15. bis 18. Jahrhunderts ein bislang weitgehend unbeachtetes Fenster in ihre lokale und überregionale Vergangenheit. Es galt die Donnerkeile, Megalithen, Urnen und keramischen Funde früher Menschheitsgeschichte sowie die lateinischen Inschriften und andere Zeugnisse römischen Lebens nördlich der Alpen in einen sinnvollen Bezug zur Gegenwart zu setzen. Alle Artefakte dienten in erster Linie dazu, die gebrochenen Bande der Frühzeit mit dem Jetzt wiederherzustellen.

Das Dogma der Theologie wie auch der Geschichte lautete, in schmucklosen Gegenständen oder Knochen älterer Zeit Naturobjekte aus der Epoche der Sintflut von vor 6000 Jahren zu sehen, denen die ausgestalteten und teilweise polychromen Hinterlassenschaften der Römer als Kunstdenkmäler gegenüberstanden. Von dieser Warte aus musste sich Archäologie mit ihren Fragestellungen, Arbeitsmethoden und Systematiken emanzipieren und viele ihrer Untersuchungsobjekte erst entmythologisieren.

Von verschiedenen Ansätzen her kommend, zeichnen die in diesem Band versammelten Beiträge über unterschiedliche Epochen hinweg diese Wege nach. Das Konzept des Bandes geht auf ein Arbeitstreffen zurück, das vom 20. bis 23. November 2007 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel stattfand. Die Vielfältigkeit der Beiträge und die Vielseitigkeit zahlreicher Verfasserinnen und Verfasser machen dieses Buch für die Darstellung der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Archäologien besonders wertvoll.

Einige Beiträge orientieren sich stark an dem antiquarischen Zugang vieler früher Wissenschaftlicher und stellen daher den unmittelbaren Bezug der Archäologiegeschichte zu den Objekten und nicht so sehr eine kunst- und kulturhistorische Interpretation oder eine legitimatorische Absicht der Auftraggeber von archäologischen Unternehmungen in den Vordergrund ihrer Darstellung. Der Fokus des Bandes liegt somit auf dem kritischen Diskurs, den Ausgräber und Sammler untereinander und mit Gesellschaftsvertretern ihrer Zeit führten. Die Vielzahl der Beiträge lässt nur einen kurzen Ausblick auf einzelne Überlegungen zu, die in dem Buch angesprochen werden. Alain Schnapp als Beispiel („Antiquare zwischen Geistes- und Naturwissenschaft“, S. 43-66) streicht das Problem der Bewertung antiker Funde als Produkt des Geistes oder des Handwerks heraus, welches sich in einigen anderen Artikeln wiederfinden lässt, z. B. bei der Gliederung von Antikensammlungen (Frauke Kreienbrink, „Archäologische Funde in bürgerlichen Privatsammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Leipziger Apothekerfamilie Linck“, S. 243-272). Thema verschiedener Abhandlungen ist das Gefangensein archäologischer Entdeckungen in aus der Bibel abgeleiteten Vorgaben (Stephan Cartier, „Wie die Zeit vergeht. Archäologie und Prähistorik im Spannungsfeld naturwissenschaftlicher und historiographischer Zeithorizonte des 17. und 18. Jahrhunderts“, S. 105-121 oder Claudia Rütsche, „Einblicke in die archäologische Sammeltätigkeit einer gelehrten Bürgerschaft im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel der Zürcher Kunstkammer“, S. 273-291) und deren Überwindung (Helmut Zedelmaier, „Vor- und Frühgeschichte als Problembezirk historischen Wissens im 18. Jahrhundert“, S. 93-104, Michał Mencfel, Neutralisierung und historische Aneignung: Sammlungen schlesischer Altertumsforscher um 1700“, S. 229-242, Claudia Liebers, „Neolithische Megalithgräber und ihre Deutung. Großsteingräber zwischen biblisch geprägtem Weltbild, Volksüberlieferung und empirischer Untersuchung“, S. 423-446, Gerd Dethleffs, „Von der Landesgeschichte zu den Heidengräbern der Vorzeit. Katholische und lutherische Archäologen im Westfalen des frühen 18. Jahrhunderts“, S. 461-480, Jan Marco Sawilla, „Von ‚Todten=Töpffen und andern Merckwürdigkeiten‘. Zur Reflexion heidnischer Bestattungsriten und ihren Überresten in Norddeutschland um 1700“, S. 481-512 oder Jens Wehmann, „Die Ausgrabungen des David Sigismund Büttner. Ein Beispiel für die Interpretation archäologischer und paläontologischer Funde in der Frühen Neuzeit“, S. 513-541), wie auch die Verknüpfung mit literarischen Quellen der Antike (Martin Ott, „Vor uns die Sintflut? Die vorgeschichtlichen Epochen süddeutscher Stadtgeschichte zwischen historiographischer Konstruktion und archäologischer Empirie“, S. 125-151, Harald Bollbuck, „Imitation, Allegorie, Kritik – Antikenfunde bei Martin Opitz“, S. 311-341 oder Florian Martin Müller / Florian Schaffenrath, „Der Tiroler Archäologe Anton Roschmann (1694-1760) und die Ruinen der Römerstadt Aguntum“, S. 343-368) oder mit volkstümlichen Vorstellungen (Cornelia Wolf, „Die Beschreibung ur- und frühgeschichtlicher Funde in handschriftlichen und gedruckten Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts“, S. 67-92, Urs B. Leu, „Johann Caspar Hagenbuchs Entmythologisierung der schweizerischen Altertumskunde“, S. 369-391 oder Jan Albert Bakker, „Hünenräber- und andere archäologische Forschungen in den östlichen Niederlanden und dem westlichen Deutschland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“, S. 393-420). Komplettiert werden diese Ansätze mit Einzelbetrachtungen z. B. zur gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Stellung der Antiquare (Volker Heenes, „Jacopo Strada – Goldschmied und Maler, Antiken- und Münzhändler, Sammler und Antiquarius Caesareus“, S. 295-310 und Klaus Graf, „Archäologisches in populären Erzählungen der Frühen Neuzeit“, S. 447-458), Originale und Fälschungen zur wirksameren Herrschaftslegitimation (Gerrit Walther, „Schöne Freiheit. Motive adligen Interesses für ‚Antiquitäten‘ in der Frühen Neuzeit“, S. 209-225 und Michael Niedermeyer, „Anthyrius – Odin – Radegast. Die gefälschten mecklenburgischen Bodendenkmäler und inszenierte Herrscherabstammungen im ‚englischen‘ Garten“, S. 173-207) oder der Aneignung von Erfahrungswissen durch Graböffnungen (Hans-Rudolf Meier, „Die Evidenz der Dinge: Frühneuzeitliche ‚Archäologie‘ in Klöstern“, S. 153-172).

Die Entdeckung der nicht-schriftlichen Zeugnisse früher Menschheitsgeschichte und die Einordnung römischer Artefakte für die europäische Geistes- und Kulturgeschichte wird durch die 22 Artikel detailliert und umfassend dargelegt, und auf alle wesentlichen Aspekte ist Bezug genommen worden. So ist ein hilfreiches und äußerst nützliches Referenzwerk entstanden, das für die Betrachtung der archäologischen Wissenschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum unumgänglich ist.