Nazis in Tibet
Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer

Peter Meier-Hüsing nimmt sich in seinem Buch Nazis in Tibet – Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer weit mehr als nur eines Reiseberichtes an. Er versucht die Hintergründe, welche zu einer solchen Expedition führten, aufzudecken und deren Auswirkungen aufzuzeigen. Dabei geht er über die Zeit des NS-Regimes hinaus und spürt den Expeditionsreisenden in die Nachkriegszeit bis zu deren Tode nach. Der Autor hegt schon lange großes Interesse an Tibet und seiner Geschichte. Das Land, das als „Dach der Welt“ bekannt ist, fasziniert den Religionswissenschaftler und leidenschaftlichen Bergsteiger. Die Beschäftigung mit dem Land Tibet kommt dem vorliegenden Band sehr zugute.

Das Buch beginnt mit einer Spurensuche nach den Köpfen und Ideen, die eine solche Expedition überhaupt möglich machten. Dabei steht Heinrich Himmler im Mittelpunkt. Der „Reichsführer SS“ ist bekannt als Anhänger okkulter Vorstellungen und Kulte. Unter seiner Regie handelte das „SS-Ahnenerbe“ auch in seinem privaten Interesse, so wie in diesem Fall bei der Suche nach „arischen“ Wurzeln in Tibet. Darauffolgend widmet sich der Autor der Jugend des Expeditionsleiters Ernst Schäfer, eines von Jagdleidenschaft und Abenteuerlust getriebenen Zoologen und zugleich Nazi-Sympathisanten. Dieser begibt sich schon früh auf waghalsige Reisen und setzt mithilfe Himmlers seinen Wunsch durch, nach Tibet reisen zu können. Die Expedition fand 1938/1939 statt. Erst kurz vor der Reise erhielt Schäfer den Doktorgrad, womöglich nur aufgrund seiner Nähe zum Regime.

Die nächsten Kapitel handeln von der Vorbereitung und Durchführung der Expedition selbst und der zahlreichen Hindernisse und Widerstände, bevor und während das Team unterwegs ist. Man wird vom Autor in die diplomatischen Gepflogenheiten der Zeit eingeführt und bekommt einen Eindruck der politischen Verhältnisse in und um Tibet in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt liegt jedoch stets auf den politischen Zuständen in Deutschland, insbesondere auf Heinrich Himmler und auf dem „Ahnenerbe“. Einen größeren Teil des Buches nimmt deswegen der Mitreisende Schäfers Bruno Begers ein, dem die anthropologischen und „rassenanalytischen“ Arbeiten während der Expedition zufielen. Dieser wurde nach dem Krieg für seine Beteiligung an der menschenverachtenden Erstellung einer Schädelsammlung angeklagt, erhielt jedoch nur eine kurze Haftstrafe. Er bildet damit keinen Einzelfall, denn aus heutiger Sicht völlig unverständlich zogen viele der im Buch aufgeführten NS-Verbrechen in der späteren Bundesrepublik Deutschland kaum Konsequenzen nach sich. Im abschließenden Kapitel geht Meier-Hüsing auf die Rezeption der Expedition in moderner Zeit ein. So behandelt beispielsweise er kurz die Entstehung der „schwarzen Sonne“ als rechtsradikales Erkennungszeichen und einige Erwähnungen der Tibet-Expedition in Romanen.

Nazis in Tibet ist ein ansprechend geschriebenes Buch, welches für Interessierte wie Forscher von Nachbardisziplinen einiges an wichtigen Informationen bereithält, aber auch Bekanntes im Rahmen der Themenstellung des Buches wiederholt. Über die Expedition hinaus wird am Beispiel Ernst Schäfers der unkritische Umgang mit Nutznießern der Rassenideologie des „Dritten Reiches“ nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verdeutlicht. Das Buch stellt eine interessante Lektüre dar, da es mit Anekdoten und kurzen Exkursen in viele weitere historische Komplexe über das eigentliche Thema hinausreicht. Leider lassen diese aber die zentrale Fragestellung zu der Expedition in einigen Passagen stark in den Hintergrund treten.

Nazis in Tibet reiht sich in eine lange Liste von populärwissenschaftlichen Büchern über das NS-Regime und seine abstrusen Legitimitätsversuche ein, zu denen auch die Tibet-Expedition gehört.

Der Aberwitz des Unternehmens - eine von der „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.“ unterstützte Tibet-Expedition auf den Spuren der „Ur-Arier“ – und besonders die okkulten Vorstellungen Heinrich Himmlers als Grundlage und Zielsetzung der Expedition wären zusammengenommen bestens geeignet, um eine unterhaltsame Abenteuergeschichte á la „Indiana Jones“ zu erzählen; dies kann jedoch nicht geschehen, da es Teile der bitteren Realität des menschenverachtenden, millionenfach mordenden Gewaltsystems der Nationalsozialisten geworden sind. Peter Meier-Hüsing gelingt es, das Abenteuer der Expedition in den Hintergrund zu stellen und statt dessen deren wohlfeile Dienstbarmachung für das NS-Regime zu entlarven.