Die Aufklärung
Das Drama der Vernunft vom 18. Jahrhundert bis heute

Sapere aude! Wage du es, selbst zu wissen! Geh hinaus aus deiner (selbstverschuldeten) Unmündigkeit! Denke selbst. Der Selbstdenker ist das hohe utopische Ziel der Aufklärung. Kein Papst, kein Rabbi, kein Imam kann dir sagen, was richtig ist. Alle Autorität musst du selbstdenkend kritisch prüfen. Löse dich von allen Autoritäten, lass dich nicht mehr am Gängelband führen, bestimme dich selbst, autonom! Das war das Ergebnis aufgeklärten Denkens: die Kritik aller Bewusstseinsinhalte. (Auch Geglaubtes ist ein Inhalt von Bewusstsein, eine Flaschenpost im stream of consciousness.) Ebenso gehört das GG, wohlverstanden, in diese Mühle der hinterfragenden Reflexion. Dieser Kern der Aufklärung und das, was noch dazu gehört, Lessing und seine Ringparabel mit ihrer entdogmatisierenden Denkweise, der Kampf gegen uralte Vorurteile und … und … darf nicht diffamiert werden als Euro-Logo-Phallo-Zentrismus. Das ist etwa die Sicht von J. Derrida, der sich als algerischer Jude in Frankreich diffamiert fühlt (und wohl auch war) und aus dieser Perspektive des pied noir seine von rancune bestimmte (so hätte Adorno formuliert) vision du monde zimmert.

Allerdings ist hienieden nichts ganz einfach; sapere aude! kann nicht bedeuten, bastele deine eigene individuelle, subjektive Sondermeinung, die auch Gruppenmeinung sein kann und behaupte sie dogmatisch-fundamentalistisch als die allgemeingültige. Also etwa: bestimme dich als gewaltgebrauchender Salafist, bestimme dich als Herrenmensch, als (falsch verstandener Nietzschescher) Übermensch. Hier ist der Kantische kategorische Imperativ ins Spiel des Denkens zu bringen. Konkret heißt das: Frage den Ungläubigen, ob er einverstanden ist mit der von dir vorgesehenen Behandlung. Also auch: lies Habermasens Theorie der kommunikativen Kompetenz, bevor du losschlägst, bevor du die Absicht, loszuschlagen ausführst. Respektiere den Homosexuellen, den Anderen in seiner Andersheit. Aber, bremse den Pädophilen: und begründe diese Position durch eine kritische Reflexion. Dass Homosexuelle zu respektieren, Pädophile zu diffamieren sind, muss durch ein herrschaftsfreies Gespräch begründet werden, in einer symmetrischen Diskussionssituation.

So sind auch alle heute sog. kulturellen Identitäten vorm Forum der kritischen Vernunft zu prüfen. Tellerlippen, Mädchenbeschneidungen, ungleicher Lohn für gleiche Arbeit sind nicht tolerabel. Auch Frauen sind Menschen und vor dem Gesetz dem Manne gleich, gleichberechtigt. Die heute da und dort praktizierte Akzeptierung buntester Weltanschauungen ist keine Aufklärung; ob Akzeptanz zu gelten hat, bedarf einer zweiten, kritischen Reflexion aller Beteiligten. Insofern gilt die sonst problematische modernistische Devise, man müsse, was getan werden soll, permanent performativ aushandeln. Dieser permanent performative Prozess findet nicht statt, wird weithin verweigert, wenngleich er in allen Kulturen angedacht ist, als parlamentarische Demokratie, als Palaver, als Schura (s. gleich unten).

Europa kann stolz sein auf Humanismus, Reformation, Aufklärung als emanzipatorischer Bewegungen, als Annäherungen an eine uns noch immer unbekannte Wahrheit. Der englische Empirismus ist auch eine Bewegung der Emanzipation von dogmatisch verfestigter Philosophie, ein insularer Sonderweg (wie der Brexit und der Linksverkehr) – allerdings schießt er bei Locke und Hume über das Ziel hinaus, indem er die transzendentalen Bedingungen des Bewusstseins übersieht: nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu (die Behauptung der Empiristen), und die Antwort der kontinentalen Rationalisten: nisi intellectus ipse. Die software des mind wird von den Empiristen nicht beachtet.

Allerdings Europa leidet unter Minderwertigkeitsgefühlen, unter Schuldgefühlen wegen der Verbrechen der Kolonialzeit, einschließlich des Sklavenhandels. Heute kommt hinzu der Vorwurf asymmetrischer unfairer Handelsverträge, neokolonialistischer Praktiken, und die Behauptung, Hauptverursacher des Klimawandels zu sein. In Deutschland speziell lastet der Holocaust auf dem Karma-Konto.

Dann indes: was wir stolz vor uns hertragen, die freiheitlich parlamentarische Demokratie, ist in Mutanten, Varianten auch in anderen Kulturen durchaus geübte Praxis, wie eben oben schon angedeutet wurde. Man darf an das Palaver denken: in den Stammesgesellschaften Afrikas werden Entscheidungen durch ausführliche Gespräche Beteiligter vorbereitet. Das sind parlamentarische erste und zweite und dritte Lesungen. Palaver ist, bei uns pejorativ gebraucht, in afrikanischen Stämme durchaus positiv die Beratschlagung der Ältesten eines Stammes und Schura ist dasselbe im islamischen Raum, die vom Koran angeregte Beratschlagung; Sure 42, Vers 38: „die auf ihren Herrn hören, das Gebet verrichten, sich untereinander beraten“. Im islamischen Raum und Recht gibt es die Schura, was auch Beratung heißt. Sie ist im Koran angelegt: „ratschlage mit ihnen über die Angelegenheit! Und wenn du dich entschlossen hast, dann vertrau auf Gott! (Sure 3, Vers 159). Parlamentarische Demokratie verstehen wir als freiheitliche Beratung und Bestimmung dessen, was zu tun ist durch repräsentativ gewählte Vertreter. Durchaus also: Was wir stolz vor uns her tragen, die parlamentarische Demokratie, ist in Varianten, in Mutanten auch in anderen Kulturen geübte Praxis.

Palaver, Parlament, Schura: das sind globale, universale Institutionen, die wechselseitig voneinander lernen können. Modernistisch kommt heute hinzu das permanent performative Aushandeln von Lebenswelt-Entwürfen.

Global gesehen ist das Interessant-Überraschende, dass Aufklärung nur in der Ersten Welt war, allenfalls abgeschwächt auch in der Zweiten, sonst herrscht Theoriestillstand. In der Dritten Welt jedenfalls gab und gibt es das nicht: Shintoismus, Islam, Buddhismus, Animismus, Konfuzianismus, auch, wohlverstanden, im harter Kern im Katholizismus kennen Aufklärung nicht: Immerhin gibt es überall Minderheiten, im Islam etwa Seyran Ates, Necla Kelek, Ayaan Hirsi Ali u.a., darunter auch Professoren für islamische Theologie, die für eine kritisch-hermeneutische Exegese des Koran werben.

Selbst wenn vieles (oder dem Kenner alles, was in diesem Aufklärungs-Buch mitgeteilt wird) bekannt ist, bleibt der Band im heutigen unendlich-endlosen stream of publications unverzichtbar. Er erinnert eine europäische Tradition, deren Ertrag in Gefahr ist. An manchen Stellen, auch im Katholizismus, sind archaische Gegenkräfte dialektisch am Werkeln. Sie möchten, in der Sprache Hegels, die Aufklärung zum Nichtsein verdammen und das Rad in archaische Zeiten zurückdrehen. Dass Aufklärung auch „Aufkläricht“ erzeugte, wie schon ein Genosse des Zeitalters formulierte, dass Fehler vorkamen, dass eine heute borniert wirkende Definitionswut lächerlich wirkt, bleibt davon ganz unberührt. Errare humanum est. (Zur Definitionswut: Kant bestimmt Ehe als „wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge“.)

Wir müssen indes an der Aufklärung als einem unvollendeten Prozess und Projekt der Moderne (W. Ölmüller) festhalten. Es ist wichtig, Aufklärung immer wieder bewusst zu machen, ihre Ideen und Argumentationen. Allzuleicht werden die unverzichtbaren Einsichten ad acta gelegt, vermeintlich weil sie durch eine (dubiose) Dialektik widerlegt seien. Das ist ein Irrtum. Das Denken der Aufklärer bedient auch heute noch ein nicht abgeschlossenes Projekt. So ist etwa die Toleranz noch lange nicht Maxime der Handlung aller. Stattdessen feiern dogmatisch-fundamentalistische Verhärtungen borniert mit der Kalaschnikow im Anschlag munter weiter ihre Feste.

Saltzwedel legt einen spannenden, leicht lesbaren Band vor, der die europäische Aufklärung facettenreich in meist kürzeren Artikeln beleuchtet. Versammelt ist viel Bekanntes (Voltaire, Rousseau, Lessing), aber auch weniger Bekanntes (Olympe de Gouches) und durchaus Nichtbekanntes. So entsteht ein vielfältiges buntes Porträt der Epoche, in dem James Cook der weltumsegelnde Entdecker nicht fehlt.

Alexandra Gittermann teilt eine heute sehr relevante Angelegenheit mit, das ist verblüffend neu und doch hochaktuell. Es gab seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges eine Einladungs-Migration. Man weiß das von Friedrich II. in Preußen, von Katharina der Großen in Russland, von Maria Theresia in Österreich. „Siedlungsprojekte für entvölkerte Landstriche gab es in etlichen Ländern schon lange“ (S. 60). Aber auch der spanische König Karl versprach „Bauern und Handwerkern ein sorgenfreies Leben“ (S. 58). „Agenten zogen durch das Land, die um Emigranten warben“ (S. 59); man darf an deutsche Anwerbebüros in Ankara und Istanbul in den sechziger Jahren denken. Man suchte Facharbeiter so wie heute. Es ging damals aber um „Peublierung“ dünn besiedelter Gebiete, gegenwärtig haben wir es mit überpopulierten Regionen zu tun, die von Wohnungsnot bestimmt sind. Die Anwerber des spanischen Königs wurden pro Kopf bezahlt, sie sind frühe Mutationen der heutigen Schlepper.

Dass die Wanderungsaktionen nicht ohne Enttäuschungen abliefern, ist anthropologisch und psychologisch gesehen plausibel. „Viele der ersten Einwanderer starben. Auf die folgenden kamen neue Herausforderungen zu: Sie bekamen es mit Übergriffen durch benachbarte Dorfbewohner zu tun, denen die Vorteile, die ihre neuen Nachbarn genossen, nicht passten. Im August 1769 zündeten einige von ihnen eine Baracke an; drei Tage später meldete man drei Brandherde gleichzeitig. Mehrere Siedler wurden zudem überfallen, misshandelt und beraubt. Immer wieder wurde Vieh gestohlen.“ (S. 63) Geschichte wiederholt sich nicht blank und bloß, es gibt aber heute Mutationen historischer Ereignisse, so dass strukturhomologe Abläufe entstehen.

„Die Sierra Morena zog viele Reisende an, die sich das seinerzeit aufsehenerregende Experiment ansehen wollten. Fast alle werteten das Unternehmen als Erfolg und bewunderten die Kulturlandschaft, die die Siedler dem steinigen Boden abgetrotzt hatten. Bis heute ist La Carolina, wie der Hauptort zu Ehren des Königs genannt wurde, ein blühendes landwirtschaftliches Zentrum, in dem noch immer einige deutsche Familiennamen an die mühevollen Gründerjahre erinnern.“(S. 65) Auf Mallorca gibt es eine Menge von Alemanys (als Familienname), die früher Landsknechte Karls V. waren und in Spanien hängengeblieben sind.

Allein Bittermanns Beitrag macht den Band, der in jede Bibliothek für die Oberstufe gehört, lesenswert.