Südostpolen zwischen Umbruch und Neuorientierung
Spezifika, Perspektiven und Risiken der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1990

Vor einer neuen Doppelteilung Europas?

In der zukünftigen gesamteuropäischen Struktur kommt Südostpolen eine „Scharnierfunktion“ zu. Daraus sich ergebende Fragen und Chancen sind Gegenstand einer Arbeit von Annegret Haase, die im Januar 2001 an der Universität Leipzig von der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie als Dissertation angenommen wurde. Ihre Untersuchung folgt einem interdisziplinären Ansatz (Sozialgeographie, Kulturgeschichte, Vergleichende Kulturwissenschaft). Im Vordergrund steht der qualitative Aspekt, was methodisch betrachtet bedeutet, daß sich Haase der Expertenbefragung mittels offener, leitfadengestützter Interviews bedient. Natürlich hat die Autorin, die hinsichtlich des Forschungsgegenstandes Südostpolen Neuland betritt, auch die polnische Fachliteratur zur Situation in Südostpolen sowie die wenigen diesbezüglichen Darstellungen in westlichen Sprachen ausgewertet. Hierüber gibt die ausführliche, bis ins Jahr 2001 reichende Bibliographie Aufschluß. Im ausführlichen Anhang finden sich darüber hinaus nähere Angaben zur Expertenbefragung sowie Zusammenfassungen in mehreren europäischen Sprachen. Der darstellende Teil ist darüber hinaus mit zahlreichen Graphiken, Tabellen, Landkarten und Photographien versehen, wodurch die langen Textpassagen aufgelockert werden und sich die Lektüre als einfacher und anschaulicher erweist.
Das zentrale Anliegen der Arbeit ist es, den Verlauf und die Ausprägungen des tiefgreifenden Wandels, der sich seit 1990 in Südostpolen vollzieht, in seinen Wechselbeziehungen zu überkommnen Strukturen zu untersuchen und auf dieser Grundlage Zukunftsperspektiven und Konfliktlinien zu erkennen. Haase analysiert dabei drei zentrale Themenkomplexe: Erwerbskrise, Mobilität und Migration sowie polnisch-ukrainische Beziehungen. Dabei kommt die Autorin zum Ergebnis, daß die Gefahr einer „neuen Doppelteilung“ Europas besteht, was für das periphere Südostpolen bedeuten würde, daß es kaum Entwicklungschancen hätte. Vor dem Hintergrund der Frage, ob es dem erweiterten Europa gelingen wird, zu den angrenzenden Staaten im Osten Europas eine Brückenfunktion auszuüben, handelt es sich hier in der Tat um elementare, existentielle Themen für die im 21. Jahrhundert weiter zusammenwachsende Europäische Union.
Diese Fragestellung ist in überzeugender Weise am Beispiel Südostpolens abgehandelt, wobei deutlich wird, daß es sich bei den Umwälzungen in den Transformationsstaaten um beispiellose, einmalige Vorgänge handelt, die sich mit alten Konzepten oder Modellen kaum erklären lassen. Insofern bereichert der verfolgte interdisziplinäre, breit formulierte Forschungsansatz auch die kontrovers geführte Diskussion über eine konsistente Theorie der Transformation.