Okzitanistik, Altokzitanistik und Provenzalistik
Geschichte und Auftrag einer europäischen Philologie

Exklusives Fach

Der XXVI. Deutsche Romanistentag, der im Herbst 1999 in Osnabrück stattfand, sollte, so das ambitionierte Tagungsmotto, “Geschichte und Auftrag” der deutschen Romanistik erkunden. Seit den Anfängen dieser Romanistik am Beginn des 19. Jahrhunderts ist das Provenzalische bzw., in neuerer Terminologie, das Okzitanische eines ihrer vornehmsten Arbeitsgebiete. Insofern hat sich Angelica Rieger, die Herausgeberin der hier zu rezensierenden Publikation, große Verdienste dadurch erworben, daß sie einen großen Teil derjenigen deutschen Forscher(-innen), die gegenwärtig auf diesem Gebiet tätig sind, zur Mitarbeit an einer einschlägigen Sektion motivieren konnte. Der Band, der die meisten der damals in Osnabrück vorgestellten Sektionsbeiträge enthält, liefert das beeindruckende Porträt eines Teilbereichs der deutschen Romanistik, der es vor dem Hintergrund der heute übermächtigen Tendenz zur ökonomischen Instrumentalisierung aller Wissenschaften besonders schwer hat, seine Existenzberechtigung plausibel zu machen. Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang kommt den ersten vier Kapiteln zu, die in der Abteilung “Zukunftsaussichten und Perspektiven” zusammengefaßt sind und Aufschluß über die Situation des Okzitanischen im heutigen Frankreich und über seinen Stellenwert im deutschen Universitätsalltag der Gegenwart geben. Als weitere Abteilungen  schließen sich an: “Sprachwissenschaft”, “Literatur- und Kulturwissenschaft” und “Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte”.

Die insgesamt neunzehn\19 Beiträge, die in den genannten Abteilungen zusammengefaßt sind, können hier nicht alle vorgestellt werden, es seien daher im folgenden nur einige von ihnen beispielhaft herausgegriffen: In “Okzitania und Frankophonie” (S. 57-70) beschäftigt sich Fritz Peter Kirsch mit der Rolle des Okzitanischen im heutigen Frankreich: Als literarisches Idiom habe es dort gegen die Übermacht der Nationalsprache nur wenig Chancen. Auch im südlichen Teil des Landes könnten nur solche Autoren auf ein breiteres Publikum hoffen, die sich des Französischen bedienten. Die Position des Okzitanischen im Verhältnis zur Nationalsprache sei noch ungünstiger als die der außerfranzösischen Frankophonie, weil es “innerhalb des Hexagons [...] Kulturpartnerschaft” nach wie vor “nicht gefragt” (S. 67) sei. In “Der (wirklich) letzte Trobador: Jordi de Sant Jordi und die okzitanische Sprache” (S. 137-45) präsentiert Hans-Ingo Radatz den westlich der Pyrenäen beheimateten Lyriker Jordi de Sant Jordi aus dem frühen 15. Jahrhundert. Dessen Gedichte werden traditionellerweise der katalanischen Literatur zugerechnet, jedoch, so meint Radatz, zu Unrecht, denn in der von Jordi verwendeten Sprache hätten die okzitanischen Komponenten ein stärkeres Gewicht als die katalanischen. Er und kein anderer sei daher als der wirklich letzte okzitanische Trobador anzusehen, obwohl er sein Werk auf der iberischen Halbinsel verfaßt habe. Johannes Kabatek nimmt sich in seinem Beitrag “Lo Codi und die okzitanischen Texttraditionen im 12. und 13. Jahrhundert” (S. 147-163) den wohl zwischen 1150 und 1200 verfaßten altokzitanischen Rechtstext Lo Codi vor, der als volkssprachliche Übersetzung einer älteren lateinischen Quelle anzusehen ist. Diese Quelle ist zwar verloren, ihre sprachliche Gestalt läßt sich jedoch ausgehend von einer erhaltenen lateinischen Fassung aus späterer Zeit erahnen. Kabatek arbeitet die nähesprachlichen Stilzüge des okzitanischen Textes heraus und vertritt auf der Basis seiner linguistischen Analyse die These, daß dieser wohl für Personen bestimmt gewesen sein müsse, “die zwar mit juristischen Sachverhalten zu tun haben und diese kennen müssen, aber nicht mit dem römischen Recht und dessen Terminologie vertraut sind” (S. 159). Demgegenüber sei die lateinische Fassung von distanzsprachlichen Elementen durchsetzt, was auf einen im engeren Sinn gelehrten Adressatenkreis schließen lasse. Die dritte Abteilung “Literatur- und Kulturwissenschaft” enthält ausschließlich Beiträge zur lyrischen Dichtung des Mittelalters, während die neuzeitliche Literatur in okzitanischer Sprache merkwürdigerweise überhaupt nicht vertreten ist. Dafür sind die in dieser Abteilung zusammengefaßten Studien durchweg interessant, d.h. die Arbeiten von Michael Bernsen “Die Minnedichtung Wilhelms von Aquitanien als Diskurs” (S. 207-216), von Katharina Städtler “En cort, en cambra o dinz vergier: Überlegungen zu einer historischen Anthropologie des fin´amor” (S. 217-230), von Jan Rüdiger “Das Morphem Frau. Überlegungen zu einer ‚Grammatik der Mentalität’ im okzitanischen Mittelalter” (S. 231-247) und vor allem von Robert Lug “Katharer und Waldenser in Metz: Zur Herkunft der ältesten Sammlung von Trobador-Liedern (1231)” (S. 249-274). Lug liefert eine stichhaltig begründete Datierung des Chansonnier de Saint-Germain-des-Prés, dessen älterer Teil nach seiner Argumentation im Jahr 1231 in Metz entstanden sein muß. Der Chansonnier enthält den Text von 177 Liedern, davon 24 okzitanischen, wobei dem jeweiligen Wortlaut in fast allen Fällen eine durch Neumennotation kenntlich gemachte Melodie beigegeben ist. Zusammenfassend vertritt Lug die These, daß das von ihm untersuchte Manuskript “nicht nur materiell das früheste aus Lothringen erhaltene ‚Literatur-Dokument’ darstellt, sondern dass es tatsächlich Lieder waren, die als erste den Weg in die Schrift fanden”. Unter den Beiträgen aus der letzten Abteilung “Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte” ist besonders die Studie von Pierre Bec hervorzuheben: “Les troubadours et le romantisme allemand” (S. 277-98). Darin zeigt Bec, daß die deutschen Romantiker der altprovenzalischen Literatur ein stilisiertes Bild dieser südfranzösichen Landschaft entnehmen. Vor allem bei Uhland und Heine erscheine die Provence als “eldorado où il fait bon vivre, et où le Minnesang a vu le jour” (S. 277).

Nach der Lektüre des facettenreichen Bandes, an dem auch viele jüngere Forscher(-innen) mitgewirkt haben, braucht einem um die Zukunft der deutschen Okzitanistik nicht bange zu sein. Zu hoffen bleibt nur, daß unsere Universitäten weiterhin die institutionellen Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieser edle Teilbereich der Romanistik auch in Zukunft wird bearbeitet werden können.