In die Haare, in die Arme
40 Jahre Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag

Zum Stand des christlich-jüdischen Gesprächs

Unterschiedlicher könnten die beiden hier anzuzeigenden Veröffentlichungen kaum sein und doch sind sie ohne Schwierigkeiten gemeinsam zu betrachten.

Der von Hubert Frankemölle herausgegebene Band gibt im Wesentlichen die Vorträge wieder, die im Jahr 2000 in einer Vortragsreihe der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Paderborn von katholischen, evangelischen und jüdischen Referenten, die z.T. seit Jahrzehnten am christlich-jüdischen Gespräch zukunftsweisend beteiligt sind, gehalten wurden. Gemeinsam ist ihnen, daß sie den jeweils aktuellen Forschungs- und Diskussionsstand ihres Themas im christlich-jüdischen Gespräch zusammenfassen, allerdings durchweg ohne einen unmittelbaren Bezug zu gesellschaftlich-politischen Entwicklungen, und dem mit der Thematik weniger Vertrauten einen guten Einstieg in den Stand und die Facetten dieses interreligiösen Dialogs ermöglichen. Kammerers Monographie ist hingegen eine Fallstudie der Entwicklung des Gesprächs zwischen evangelischen Christen und Juden in einer bestimmten Gruppe in Abhängigkeit von den je aktuellen innerkirchlichen Bedingungen und gesellschaftlich-politischen Entwicklungen.

Bleiben wir zunächst bei dieser Monographie. Wie schon der Titel andeutet, schreibt Kammerer eine angenehm lockere, jedoch nie salopp-unangemessene Sprache. Die sorgfältig aus den Quellen gearbeitete und in Gesprächen mit am Dialog Beteiligten überprüfte Darstellung gewinnt so eine wohltuende Leichtigkeit, gelegentlich ist eine gewisse ironische Distanz zu spüren. Aus dieser Gelassenheit heraus gelingt es Kammerer, die immer wieder von innen und außen bedrohte Geschichte der Arbeitsgemeinschaft in knappen, zugleich kräftigen präzisen Strichen nachzuzeichnen. Der Titel, ein Zitat von Martin Buber, das Helmut Gollwitzer in der ersten großen Krise der Arbeitsgemeinschaft gegenüber seinem jüdischen Gegenüber Robert Raphael Geis heranzog, signalisiert jedoch mehr: Hier wird nicht einfach eine Geschichte vom Streiten und Versöhnen erzählt, sondern vor allem von der Art des Streitens, des Umgangs miteinander. Die drei ersten Kapitel „Durchbruch“, „Einbruch“, „Aufbruch“ behandeln die 60-er Jahre; einem eher systematischen Kapitel, in dem grundsätzliche Fragen von Gottesdienst und Bibelarbeit behandelt werden, folgen je ein Kapitel über die Arbeit Ende der 70-er Jahre, die Wandlungen in der Arbeit zu Beginn der 80-er Jahre, die Krise der AG in Folge des Golfkrieges 1991 sowie ein Kapitel über die neue Bescheidenheit gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Diese Gliederung schon lässt erkennen, welche grundsätzliche Bedeutung der ersten Dekade in der Geschichte der AG und damit im Gespräch zwischen Christen und Juden zukommt. Vor allem lassen diese Kapitel erkennen, wie sehr das Gespräch von einzelnen Persönlichkeiten getragen und vorangetrieben worden ist (etwa R.R. Geis und E.L. Ehrlich auf jüdischer; A. Freudenberg, H. Gollwitzer, M. Stöhr auf christlicher Seite), wie sehr der Fortgang des Gesprächs von der Verflechtung mit anderen Organisationen (insbesondere von den seit 1948 entstandenen Gesellschaften für christlichjüdische Zusammenarbeit) positiv beeinflusst wurde, wie schwer die theologische, insbesondere lutherische Tradition das Gespräch immer wieder belastete oder gar zu zerstören drohte (Absolutheitsanspruch des Christentums, Christologie, Judenmission u.a.). Da selbst entschiedene Befürworter des Gesprächs wie A. Freudenberg oder H. Gollwitzer von diesen Traditionen nicht frei waren, drohte das frühe Scheitern von innen heraus. Nach Überwindung dieser tiefgreifenden Krise gewann die AG durchaus eine Vorreiterrolle für das interreligiöse Gespräch. Kammerer legt einsichtig dar, dass ohne den Einsatz vieler AG-Mitglieder die Erklärungen vieler Landeskirchen zum Verhältnis von Juden und Christen kaum vorstellbar seien. Sie zeigt aber auch, dass die inzwischen drei Studien „Juden und Christen“ der EKD zumindest partiell jeweils hinter den in der AG oder in einzelnen Landeskirchen gewonnenen Einsichten zurückbleiben. Die Bedeutung der Darstellung liegt schließlich auch darin, dass Kammerer immer wieder deutlich aufzeigt, wie die gesellschaftlichen Entwicklungen in der alten und zuletzt in der neuen Bundesrepublik ebenso wie die internationale Entwicklungen, insbesondere die Krisen und Kriege im Nahen Osten, die Mitglieder der AG herausforderten und in Krisensituationen führten, aus der sie immer wieder – wenn auch oft unter großen Mühen –herausfanden. Es ist dem Buch das zu wünschen, was Kammerer abschließend für das Verhältnis von Arbeitsgemeinschaft und Kirchentagsbesuchern feststellt „Von den Auseinandersetzungen dieser Gruppe haben mehr Menschen Gewinn als die, die unmittelbar daran teilnehmen“.

Das Spektrum der im Jahr 2000 gehaltenen Vorträge reichte vom Stand des katholisch-jüdischen (Akademiedirektor H.H. Henrix) und des evangelisch-jüdischen Gesprächs (M. Stöhr) über „Die Rolle des Vatikans in der NS-Zeit“ (M. Greschat), die Bedeutung judenfeindlicher Darstellungen in der europäischen Kunst (R. Kampling) und der Frage nach antijüdischen Elementen in geistlicher Musik (Bachs Passionskompositionen, M. Walter) bis zu exegetischen und systematischen, also im engeren Sinne theologischen Fragestellungen. So fasst H. Frankemölle seine langjährigen Forschungen zum Matthäusevangelium programmatisch unter dem Titel „Für eine neue Lektüre der Bibel. Antijudaismus im Matthäus-Evangelium (und in der Matthäus-Passion von J.S. Bach)?“ zusammen (gehalten in Stuttgart während des europäischen Musikfestes 2000), während W. Breuning mit seinem Vortrag „Elemente einer nicht-antijüdischen Christologie“ eine der zentralsten Fragen im christlich-jüdischen Gespräch behandelte. Daß beide „theologischen“ Vorträge von katholischen Forschern gehalten wurden, stört nicht; evangelische und katholische Wissenschaftler unterscheiden sich in diesen Fragen kaum – sofern sie den erreichten Stand des christlich-jüdischen Gesprächs bejahen. Wie zentral die Frage der Christologie im christlich-jüdischen Gespräch ist, macht der Vortrag von Simon Lauer, Professor für Rabbinische Literatur und Jüdische Philosophie, „Christologie ohne Antijudaismus? Ist aus jüdischer Sicht ein Neuansatz denkbar?“ deutlich. Tovia Ben-Chorin, Rabbiner der liberalen Gemeinde Zürich, reflektiert über „Universalismus im Judentum“. „Möglichkeiten und Grenzen im christlich-jüdischen Verhältnis“ loteten Landesrabbiner von Westfalen - Lippe H.G. Brandt, der Präses der Westfälischen Kirche M. Sorg und Erzbischof J.J. Degenhardt in einer Podiumsdiskussion aus. Der Herausgeber beschließt den Band mit „Thesen und Impulsen“ zum Thema der Reihe. Als Anhang ist die Rede von Bundespräsident Johannes Rau vor der Knesset vom 16. Februar 2000 abgedruckt, auch als Anerkennung seiner Begleitung des christlich-jüdischen Gesprächs, u.a. als Gründungsmitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Wuppertal. Überblickt man die Beiträge insgesamt, so kann man feststellen, daß sie einen ausgezeichneten Überblick über den Stand des christlich-jüdischen Gesprächs sowie die Problematik christlichen Antijudaismus geben. Zugleich machen sie deutlich, daß das Gespräch immer wieder Gefahren ausgesetzt ist, daß die Revision jahrhundertealter Denkmuster bisher nur von einer Minderheit verinnerlicht ist, daß sehr fortschrittliche Positionen von traditionellen Denkmustern konterkariert werden – sowohl innerhalb der katholischen als auch der evangelischen Kirche. Für den „Einsteiger“ in das Gespräch zwischen Juden und Christen ist dieser Band sehr geeignet.

Angenehm ist, daß beide Bücher sprachlich so gut wie fehlerlos sind, was leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist.