Vampirism. Literary Tropes of Decadence and Entropy

Die Arbeit von Dennison, ein von der äußeren Erscheinung her schönes, schmales Buch, liefert für das Aufkommen der Vampirliteratur im frühen 19. Jahrhundert eine epistemologische Begründung: “the popularity of the vampire as a major figure in the arts coincides with the advent of entropy physics”. Der Vampir stellt insofern eine angemessene Metapher für das offene Weltbild der modernen Physik dar, als er dessen schrankenlose Dynamik verbildlicht: “the vampire is a natural trope for entropy [...] because it is subversive, perverse, alienated, even evil, turning holy rite by parody to blasphemy.” Da die explizite Formulierung der Lehre von der Entropie erst in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgt (durch Rudolf Clausius in Berlin), müssen die davor auftretenden Vampire als Ankündigung, gleichsam als künstlerischer Vorschein dieses wissenschaftlichen Durchbruchs verstanden werden. Dabei interessiert sich Dennison weniger für den Typus des männlichen Vampirs, den etwa John Polidori in seinem Vampyre von 1815/16 präsentiert, als für die weiblichen Vampire, welche in den dreißiger und vierziger Jahren aufkommen: für Clarimonde, die Titelfigur aus Théophile Gautiers La morte amoureuse von 1836, sowie für die Heldinnen aus mehreren Erzählungen von Edgar Allan Poe, welchen Dennison einen vampirischen Charakter zuweist: Berenice, Ligeia und Morella. Als Vampire hätten alle diese Heldinnen einen gemeinsamen metaphorischen Wert: “Perversely, the vampire is anti-entropic in an entropic universe, and also completely entropic – in fact, a trope of the entropic universe, a personified black hole sucking energy into its insatiable and eternal maw”. Ein in diesem Sinne vampirisches Universum werde auch in The Fall of the House of Usher entfaltet, so daß diese Erzählung ebenfalls im Hinblick auf die Vampirästhetik interpretiert werden könne. Die genannten Erzählungen seien durch eine Desintegrationsbewegung von kosmischen Ausmaßen bestimmt. Die philosophischen Hintergründe dieser Desintegrationserfahrung habe Poe in seinem Essay Eureka von 1848 dargestellt: “the questions and speculations about the entropic annihilation of energy posed by earlier scientists position Poe’s Eureka right at the cutting edge of the new Post-Newtonian physics”.

Mit Charles Baudelaire tritt die Geschichte des literarische Vampirismus’ in die Phase der Dekadenz ein. Der Poe-Leser Baudelaire hat die Vampirthematik in mehreren Gedichten ausgelotet. Wie Poes erzählerische Arabesken so weisen auch diese Gedichte eine “women-as-disorder structure” auf. Dennison liest Baudelaires Vampirgedichte Le Vampire, De profundis clamavi und Les Métamorphoses du vampire vor dem Hintergrund von Poes Essay Eureka. “To the satanic, spleenful Baudelaire the symmetry of nothingness has cosmic beauty, and it is meaningful that this absolute disorder should be represented by Baudelaire through the metaphor of the vampire: the reordering of order through its contagion to contradiction and perversity.” Mit seinen vampirischen Gedichten habe Baudelaie eine lyrische Tradition begründet, welche dann von D’Annunzio, Rollinat, Valéry und Arthur Symons weitergeführt worden sei. Die Gedichtinterpretationen leiten über zum Dracula-Kapitel, das in herkömmlichen Darstellungen der Geschichte des literarischen Vampirismus normalerweise an zentraler Stelle steht. Dagegen gelingt die Einbindung des 1897 erschienenen Romans von Bram Stoker in den Kontext der Vampirthematik vor dem Hintergrund von Dennisons Entropie-These nur mit Mühe, denn in diesem Fall wird das Erzählen selbst keineswegs vom Sog des Vampirimus erfaßt. Es ist einigermaßen paradox, daß sich die These vom metaphorischen Verhältnis zwischen Vampirismus und Entropie gerade vor dem kanonischen Text des Genres am wenigsten bewährt. Auf die Dracula-Interpretation folgt ein Kapitel zu mehreren poetologischen Erzählungen, die sich ebenfalls auf den Grundgedanken der gesamten Arbeit beziehen lassen: Behandelt werden The Oval Portrait von Edgar Allan Poe, The Vampire von Jan Neruda und Canon Alberic’s Scrap-book sowie The Mezzotint, beide von M.R. James. Das Buch endet mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert, das Dennison als “Vampire Century” bezeichnet und in dem der Vampirismus jenen medialen Ausdruck gefunden hat, der ihm am ehesten angemessen ist: den Film.

Die leitende These der Arbeit, die für die behandelten Quellen mehr oder weniger plausibel gemacht  worden ist, kann ihre Herkunft aus dem theoretischen Umfeld des Dekonstruktivismus nicht verleugnen. Anders als der Dekonstruktivismus ist sie aber nicht sprachphilosophisch motiviert, sondern epistemologisch. Das verleiht dem Erklärungsstil Dennisons eine gewisse Paradoxie: Denn in einer Diktion, die an den traditionellen dekonstruktivistischen Diskurs erinnert, erhebt der Autor die Dialektik von Ordnung und Unordnung, von Sinn und Nicht-Sinn zum Spezifikum der nachaufklärerischen Zeit, eine Dialektik also, die von den meisten anderen Dekonstruktivisten in sehr viel radikalerer Weise als das zentrale Charakteristikum von Schriftlichkeit schlechthin verstanden und insofern nicht auf eine besondere historische Epoche bezogen wird.