Doppelgänger. Steinmonument, Spiegelschrift und Usurpation in der russischen Literatur

Mit Schönheitsfehlern

Alexander Wöll greift mit seiner Monographie ein Thema auf, das schon längere Zeit (nicht nur in der slavistischen) Literaturwissenschaft Aufmerksamkeit findet, doch gelingt es ihm, einen entscheidenden Schritt über die bisherigen Arbeiten hinauszutun, da er ein typologisches Modell anbieten kann, das universal anwendbar ist und sich nicht wie die herkömmlichen Ansätze auf die Narratologie beschränken muß. Der Verfasser erreicht dies durch die Bestimmung von “typologischen Invariablen”, die er in überzeugender Weise systematisiert: Er unterscheidet in der Verwendung des Doppelgängermotivs acht “nominale” Bedeutungen, d.h. grundlegende Unterscheidungskategorien, die vom Bewußtseinszustand der mit ihrem Doppelgänger konfrontierten Figur über die Richtung und die Art der Verdoppelung, deren Erscheinungsform, Entstehung und Auswirkung bis hin zu ihren variablen Kristallisationsorten, ihrer Motivierung und zum Gender-Aspekt der Doppelgängerei reichen. Dieses Grundmuster ergänzt Wöll durch eine wechselnde Zahl von “modalen” Bedeutungen je “nominaler Kategorie”, in denen die empirisch aus Einzelanalysen gewonnenen Daten in das Raster eingepaßt werden. Es ergeben sich auf diese Weise die im Untertitel der Arbeit genannten drei Kernbereiche für das Auftreten des Doppelgängermotivs sowie die grundlegenden Entwicklungstendenzen in der Motivgeschichte: Im ersten Teil behandelt der Autor, ausgehend von Puškin und Lermontov, das “Aufkommen von Doppelungsphänomenen in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts”, im zweiten Teil folgt anhand von Texten Gogols, Dostoevskijs, Čechovs und Brjusovs die “Transformation der Doppelungsphänomene”, ehe der dritte Teil am Beispiel Belyjs, Mandel’štams, Nabokovs und Sokolovs die “[p]arodierende Distanz zu den Doppelgängerphänomenen” herausarbeitet. Für Eilige bietet Wöll am Beginn jeder seiner äußerst scharfsichtigen und präzisen Einzelanalysen, die sowohl durch die fundierte Textauswahl als auch durch die benutzte vielschichtige und umfassende Sekundärliteratur beeindrucken, ein “abgekürztes Strukturmuster” aus einer die Merkmalskombinationen symbolisierenden Buchstaben- und Zahlenchiffre, in der die Tiefenstruktur des jeweils untersuchten Texts verdeutlicht ist. Der Nachteil dieser “Strukturmuster” besteht aber darin, daß sie immer nur auf die Perspektive einer einzigen (meist der Haupt-)Figur anwendbar sind und für die Interpretation immanent eine personale Erzählsituation annehmen, die Konstruktion des Doppelgängertums somit stets als subjektives Empfinden wiedergeben. Die 18 ganzseitigen Illustrationen entsprechen dem Hang des Autors zur Visualisierung. Das abschließende Autoren- und Werkregister enthält auch zahlreiche Sachbegriffe. Bedauerlich sind die vielen, vom Autor zu verantwortenden Übersetzungsfehler, da trotz eines beachtlichen Stabes von Mitübersetzern schon in der Widmung statt “war es nicht aus diesem Grund?” zu lesen ist: “Es war nicht aus diesem Grund” (S. 5), der Revieraufseher (kvartal’nyj) zum Häuserblock wird (S. 179) und sich Bitterkeit (goreč’) in Glut verwandelt (S. 346), um nur die gröbsten Schnitzer zu nennen. Teilweise stimmen die Textstellen in Zitat und Übersetzung nicht überein (S. 140, 342). Fazit: Ein anregend geschriebenes, trotz mancher kleinerer Mängel erfrischendes Buch, das systematisch klar und argumentativ überzeugend Geschichte und Bedeutung des Doppelgängermotivs für die russische Literatur herausarbeitet.