Gentlemen auf Reisen. Das britische Deutschlandbild im 18. Jahrhundert

Von exzessiven Trinkern und phlegmatischen Flegeln

Der Brite an sich verreiste zwar schon im 18. Jahrhundert sehr gerne, aber es dauerte doch eine Weile, nämlich bis zur Vor- und Frühromantik, bis er sein Herz für Deutschland entdeckte und bis dieses Land “in den Kanon der Grand Tour” aufgenommen wurde. Sonderlich schmeichelhaft oder gar gentlemanlike äußerten sich die “Gentlemen auf Reisen” freilich selten, wenn sie in ihren Reisebüchern über ihre unzivilisierten, steifen und trunksüchtigen “German ancestors” berichteten. Frauke Geyken rekonstruiert in diesem sorgfältig recherchierten und sehr lesenswerten Buch nicht nur die Konstanten und Stereotypen in der britischen Wahrnehmung Deutschlands, sondern auch Veränderungen im britischen Deutschlandbild, und zwar von dem anfänglichen Desinteresse, das man dem Vaterland des aus Hannover importierten und 1714 in Großbritannien inthronisierten Königs Georg I. entgegenbrachte, bis zur stürmischen Deutschlandbegeisterung, die im Zuge der Romantik aufkam. Zunächst waren die Briten “wenig enthusiasmiert” vom Heimatland ihres Monarchen, das in ihren Augen regnerisch, weitgehend frei von kulinarischen Köstlichkeiten und von unzivilisierten, aber titelsüchtigen Trunkenbolden und phlegmatischen Flegeln bewohnt war. Daß die Deutschen, denen die Briten neben etlichen Unsitten aber auch Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Treue attestierten, exzessive Trinker seien, war eines der ältesten Nationalstereotype, das in englischen Reiseberichten allgegenwärtig war und “den großen Einfluß der ‚Germania’ des Tacitus sichtbar macht”. Auch der neue Monarch zählte als deutscher Lutheraner zu einer “Spezies, von der man sich im anglikanischen England nur eine höchst unvollkommene Vorstellung machen konnte”. Erst durch den Wandel der Naturbetrachtung im Zuge des Zeitalters der Romantik eröffnete sich eine neue, positivere Sichtweise auf Deutschland.

Diese im besten Sinne kulturwissenschaftliche Studie, die theoretisch und methodisch an der Schnittstelle von komparatistischer Imagologie und neueren historischen Forschungen zur kulturellen Identitätsbildung (Colley, Newman) liegt, vereinigt die Vorzüge einer quellengesättigten und zugleich textanalytisch fundierten Geschichtswissenschaft mit denen einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Literaturwissenschaft. Im Anschluß an die prägnante Einleitung rekonstruiert die Verfasserin im zweiten Kapitel zunächst das britische Wissen über Deutschland, das vor allem aus Reiseliteratur und Enzyklopädien stammte, um dann im dritten Kapitel einen amüsant zu lesenden, aber gleichwohl sehr fundierten Überblick über die wichtigsten anthropologischen, gesellschaftlichen und politischen Stereotypen zu geben, die im 18. Jahrhundert in Großbritannien über Deutschland verbreitet waren. Sehr gelungen sind auch die Kapitel sechs und sieben, die sich mit den patriotisch gefärbten Geschichtsbildern der gemeinsamen germanischen Vergangenheit und ihren Funktionalisierungen bzw. mit der deutschen Kultur oder besser der “deutschen Unkultiviertheit” beschäftigen.

Die Hauptverdienste dieser ausgezeichneten Studie liegen freilich nicht allein darin, daß sie ein sehr differenziertes Bild davon zeichnet, wie Deutschland und “der Deutsche an sich” im 18. Jahrhundert von Briten wahrgenommen wurden. Vielmehr gibt sie darüber hinaus zum einen Aufschluß über die Hintergründe, Entstehungsbedingungen und Ausformungen von im 18. Jahrhundert verbreiteten britischen Nationalstereotypen über Deutschland und die Deutschen; zum anderen fragt sie immer wieder nach den Funktionen, die die damals ubiquitäre Rhetorik des Nationalcharakters erfüllte, sowie danach, was die jeweiligen Deutschlandbilder über die Briten selbst verraten. Sehr überzeugend weist Geyken “die Instrumentalisierung des Fremden nach, die durch eine “Verräumlichung von Werturteilen stereotype Vorstellungen in den Dienst politischer Ziele stellte”. Zu den wichtigsten Leitmotiven der Arbeit zählen die Einsichten, daß nationale Selbst- und Fremdbilder in einem korrelativen Verhältnis zueinander stehen und daß die Rekonstruktion britischer Deutschlandbilder zugleich Aufschluß über das britische Selbstverständnis und nationale Selbstbild gibt. Diese enge Verschränkung von Selbst- und Fremdwahrnehmung bzw. von nationalen Hetero- und Autostereotypen wird vor allem im vierten und fünften Kapitel deutlich, in denen Geyken am Beispiel der Debatten über Georg I. und Hannover bzw. über den Katholizismus überzeugend herausarbeitet, daß und wie die Kontroversen über diese Themen für inner-britische Zwecke instrumentalisiert wurden.

Eigentlich hat dieses ebenso fundierte wie aufschlußreiche Buch nur einen Fehler, nämlich den falschen Untertitel, denn angesichts der von der Verfasserin umsichtig herausgearbeiteten synchronen und diachronen Vielfalt der Bilder und Wahrnehmungen müßte es eigentlich heißen Britische Deutschlandbilder im 18. Jahrhundert. Das weiß natürlich niemand besser als Frauke Geyken, die zu Recht selbst betont, “daß es ein britisches Deutschlandbild nicht gegeben hat”; besonders deutlich wird dies vor allem anhand der positiven Darstellung der freien Reichsstädte, die als Horte der Freiheit galten, während die vielen kleinen Fürstentümer, deren Oberhäupter oft als tyrannische Despoten geschildert wurden, sowie insbesondere die katholischen Territorien stets sehr negativ abgehoben wurden. Daß die Verfasserin nicht ausführlicher auf das Konzept vom Nationalcharakter eingeht, sei zwar am Rande erwähnt, schmälert den Nutzen und das Lektürevergnügen aber ebensowenig wie die (recht stattliche) Zahl von Kommafehlern und kleineren Versehen und Inkorrektheiten bei den bibliographischen Angaben.

Fazit: Wer mehr über den “Kanon von Stereotypen”, zu dem neben der sprichwörtlichen deutschen Trunksucht z.B. Grobheit, Schwerfälligkeit und Tölpelhaftigkeit zählen, erfahren möchte, der oder die sollte sich die Lektüre dieser eminent lesenswerten Arbeit nicht entgehen lassen. Im übrigen widerlegt diese Studie auch noch ein Vorurteil, denn wer hätte gedacht, daß eine deutsche Dissertation nicht nur theoretisch fundiert, akribisch recherchiert und kulturgeschichtlich erhellend, sondern auch noch ausgesprochen gut, flott und sogar unterhaltsam geschrieben sein kann? Dieses aufschlußreiche Buch sei nicht nur anglophilen Teutonen, sondern allen Lesern mit Nachdruck empfohlen, die mehr wissen möchten über Ursprung und Funktionen britischer Wahrnehmungen und Bilder von Deutschland und den Deutschen sowie über Nationalstereotypen, die noch heute erstaunlich (oder erschreckend?) aktuell sind.