Pädagogische Psychologie

Mit der vierten, vollständig überarbeiteten Auflage haben Krapp und Weidenmann als Herausgeber ein Lehrbuch der Pädagogischen Psychologie vorgelegt, das in Form, Inhalt und Preis-Leistungsverhältnis absolut überzeugend ist. Was hat es als Lehrbuch zu bieten?

Die ersten vier Kapitel beschäftigen sich mit Grundsatzproblemen des Anwendungsfaches Pädagogische Psychologie. Zunächst geht es um die Geschichte der Pädagogischen Psychologie, deren Beginn mit dem ersten Jahrgang der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie (1891) festgemacht wird. Die stürmische Entwicklung der Disziplin in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, ihre enge Verzahnung mit der Pädagogik, der Entwicklungspsychologie und mit zentralen Themen der Allgemeinen Psychologie werden dargestellt. Nach dem zweiten Weltkrieg orientierte sich die Pädagogische Psychologie einerseits an den Entwicklungen in den USA (Programmierter Unterricht, Verhaltensmodifikation, Chancengleichheitsdiskussion u.a.), andererseits erweiterten sich ihre Forschungs- und Anwendungsfelder stark – besonders seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese aktuellen Themen sind dann auch Gegenstand des vorliegenden Lehrbuches: Lernen und Wissenserwerb, Psychologie des Lernens und des Lehrenden bzw. Erziehenden, Soziale Interaktion im pädagogischen Bereich, Lernen mit verschiedenen Medien, Psychologie der Lernumwelt, psychologisch-pädagogische Diagnostik und Beratung, Evaluation in Lehr-Lernbereichen, Berufsfelder der Pädagogischen Psychologie und Informationsquellen der Pädagogischen Psychologie. Für diese Themenbereiche haben die Herausgeber Autoren bzw. Autorinnen gewonnen, die – zumindest in der Mehrzahl – ausgewiesene Experten der von ihnen bearbeiteten Inhalte sind. Die Vielfalt der pädagogisch-psychologischen Forschungs- und Anwendungsfelder dürfte es einem Autor allein kaum noch ermöglichen, ein für Hauptfachstudierende der Psychologie angemessen qualifiziertes Lehrbuch zu verfassen – um ein solches Lehrbuch handelt es sich aber hier.

Nach dem fachhistorischen Einführungskapitel kommen wissenschaftstheoretische Grundfragen des Faches zur Sprache, d.h. zur Konstruktion von Theorien und zum Theorie-Praxis-Verhältnis. So begrüßenswert ein solches Kapitel ist, so entbehrlich erscheint aber die allgemeine Einführung in die Wissenschaftstheorie und die Theorienbildung. Diese Themen sollten in der ersten Studienhälfte des Psychologiestudiums abgehandelt worden sein. Die Thematisierung verschiedener Anthropologien bzw. Modelle des Menschen und des diffizilen Theorie-Praxis-Verhältnisses ist jedoch zentral für ein Anwendungsfach wie die Pädagogische Psychologie.

Das dritte Kapitel über „Forschungsmethoden der Pädagogischen Psychologie“ ist in seiner Differenziertheit, Präzision und Anschaulichkeit ein Lesevergnügen auch für den mit Methoden vertrauten Psychologen. Das nächste Kapitel über Spielräume für Veränderung durch Erziehung (bzw. Bildung) bildet eine willkommene Reflexionsgrundlage für alle in der Pädagogischen Psychologie Tätigen. Mit viel Sachverstand wird auf mögliche Fehlinterpretationen von Forschungsergebnissen aufmerksam gemacht. Allerdings ist der Abschnitt über gesellschaftliche und institutionelle Grenzen der Veränderung zu allgemein geraten. Auch die Möglichkeiten und Grenzen der Frühförderung in verschiedenen Erziehungs- und Bildungsbereichen hätten konkreter dargestellt werden können.

Im Folgekapitel behandelt Steiner Lernen und Wissenserwerb. In seiner bewährten Art, wie er von Alltagsbeispielen aus die theoretischen und empirischen Grundlagen des Lernens behandelt, zeigt er paradigmatisch, wie man Theorie für das Handeln in der Praxis fruchtbar machen kann. Gleichzeitig kann der Leser anhand dieses Kapitels überprüfen, ob er das verstanden hat, was er im Grundstudium gelernt hat.

Danach geht es um die Psychologie der von pädagogischen Bemühungen Betroffenen: Die Autoren nennen das dann „Psychologie des Lernens“. Im Mittelpunkt stehen emotionale, motivationale, kognitive und soziale Voraussetzungen schulischer Lernprozesse. Es geht um Entwicklungsprozesse und um Fördermöglichkeiten. Ganz im Sinne neuerer Sichtweisen steht die Selbststeuerung, also die konstruktivistische Sicht, im Mittelpunkt. Mit einer Vielzahl von relevanten Aspekten wird dieses komplexe Thema eingekreist.

Im folgenden Kapitel über Erziehende und Lehrende werden die relevantesten Erziehungs- bzw. Bildungsagenten, nämlich Eltern bzw. Familie, Lehrer, Dozenten an Hochschulen und Weiterbildungs-Dozenten im einzelnen behandelt. Bei den Eltern geht es um Erziehungsprinzipien, Erziehungsziele und Erziehungsstile bzw. -verhalten. Die populäre Diskussion über die Bedeutung der Familie für die Entwicklung der Kinder wird ebenso behandelt wie die Motivation generativen Verhaltens und die Möglichkeit des Trainings des Erziehungsverhaltens. In Bezug auf die Schule werden die historisch unterscheidbaren Paradigmen der Lehrer-Forschung dargestellt: Das Persönlichkeitsparadigma, das Prozeß-Produkt-Paradigma und das Expertenparadigma. Auch Aspekte wie Berufs(un)zufriedenheit, Belastung und Burnout werden thematisiert. Die Perspektive der Pädagogischen Psychologie über das Berufsfeld Schule hinaus wird schließlich durch die Thematik Lehre an Hochschulen und verschiedene Aspekte der betrieblichen Bildung erweitert.

An mehreren Stellen geht der Blick auch über die Bundesrepublik hinaus, indem auf Erfahrungen bzw. Bedingungskonstellationen im Ausland aufmerksam gemacht wird.

Das achte Kapitel beschäftigt sich mit Formen der pädagogischen Interaktion innerhalb verschiedener sozialer Systeme (Familie, Schule und Erwachsenenbildung). Im Unterschied zu symmetrischen Interaktionen, wie sie in der Sozialpsychologie vorrangig analysiert werden, handelt es sich bei pädagogischen Interaktionen um asymmetrische Interaktionen (Eltern bzw. Lehrende, die auf Kinder bzw. Lernende Einfluß ausüben wollen), die letztlich dazu dienen sollen, die Lernenden zu symmetrischen Interaktionen zu befähigen. Das Kapitel ist aspektreich und informativ, für Studierende aber streckenweise vielleicht etwas abstrakt und unanschaulich. Die Thematisierung der Spezifika der pädagogischen Interaktion in der Erwachsenenbildung ist zu begrüßen.

Das aktuelle Thema „Lernen mit Medien“ ist Gegenstand des neunten Kapitels. Nach einigen Begriffsklärungen werden Medien-Wirkungsforschung, die psychologischen Voraussetzungen des Lernens mit Medien und mögliche Gefahren der Mediennutzung besprochen, ausführlich auch die Text- und Bildverarbeitung. Auch der PC als Lernmedium kommt nicht zu kurz. Das Kapitel ist übersichtlich strukturiert, informativ und präzise formuliert.

Im zehnten Kapitel beschäftigt sich Schnabel mit der Psychologie der Lernumwelt. Dabei schlägt er den Bogen von Barkers „behavior settings“ über Bronfenbrenners Ebenen der Entwicklungsumwelten zu den in der TIMMS-Studie analysierten Lernumweltaspekten. Aber auch die Lernumwelt der Hochschule und die Lernumwelt von Betrieben wird thematisiert. Die Berücksichtigung verschiedener Analyseebenen zeigt schon, daß die Ökologie des Lernens höchst komplex ist und daß wir bei der Analyse der Wirkung von Lernumwelten noch viel Forschungsarbeit vor uns haben.

Mit der pädagogisch-psychologischen Diagnostik greifen Wild und Krapp im elften Kapitel ein Thema auf, das seit den 70er Jahren – ungerechtfertigterweise – in den Hintergrund getreten ist, jetzt aber auf Grund der deprimierenden TIMMS- und PISA-Ergebnisse recht bald wiederbelebt werden dürfte. Allerdings handelt es sich bei dieser Diagnostik nicht nur um Leistungs-(Effekt)-Diagnostik, sondern auch um die Diagnostik von Lernvoraussetzungen, um die Diagnostik von Lernumwelt bzw. Lernbedingungen, um Verhaltensbeobachtung, d.h. auch um die Analyse des Unterrichtsgeschehens und um Methoden zur Analyse von Lern- bzw. Erziehungsinstitutionen. Nicht zuletzt aber geht es auch um die ethischen Aspekte des Diagnostizierens. Die methodischen und die theoretischen Aspekte solcher Diagnose stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Für ein tieferes Verständnis dieses informativen Kapitels benötigt der Leser allerdings einige Erfahrung mit konkreten Diagnose-Instrumenten.

Gegenstand des zwölften Kapitels ist die Beratung als ein „zentrales Feld der Pädagogischen Psychologie“. Beratungsanlässe, Beratungsadressaten sowie Kontextbedingungen von Beratung auf der einen Seite und methodische bzw. theoretische Voraussetzungen von Beratung sowie Beratungskompetenzen stehen im Mittelpunkt des Kapitels. Das Kapitel ist übersichtlich und anschaulich gestaltet und liefert damit für Studierende einen guten Überblick über die Thematik.

Kapitel 13 geht auf die Organisation von Lernprozessen ein. In dem informativen und sehr detaillierten Kapitel wird der Bogen geschlagen von der Inhaltsorientierung der Instruktion über die Systematik des kumulativen Lernens bis zu konstruktivistischen Positionen wie dem Cognitive Apprenticeship-Ansatz. Schließlich wird eine integrierte Position des Lehrens und Lernens präsentiert, welche die Vereinbarkeit von Instruktion (von Seiten des Lehrenden) und Konstruktion (von Seiten des Lernenden) intendiert. In diesem Zusammenhang werden Stichworte wie Schlüsselqualifikationen, Problemorientierung, Strategien der Selbststeuerung, kooperatives Lernen, netzwerkbasierte Lernsysteme, Qualitätszirkel u.a. angesprochen.

Das aktuelle Thema „Evaluation“ nimmt sich das Kapitel 14 vor. Die Grundfragen der pädagogisch-psychologischen Evaluation werden zunächst an Hand von zwei Evaluationsprojekten illustriert, dann die mit Evaluationen verbundenen Erwartungen thematisiert. Die Planung von Evaluationsprozessen, die Methodik der Evaluation, die Berichterstattung, aber auch ethische Aspekte der Evaluation werden kurz dargestellt. Naturgemäß ist das alles nicht auf wenigen Seiten abzuhandeln und befriedigend zu konkretisieren. Hier aber hat der Autor Wottawa den Vorteil, daß er auf sein (mit dem Kapitel gleichnamiges) Lehrbuch verweisen kann.

Kapitel 15 beschäftigt sich mit derzeitigen Berufsfeldern der Pädagogischen Psychologie, z.B. Tätigkeitsbereiche im Schulpsychologischen Dienst, in der Familien- und Erziehungsberatung und in der Forschung. Damit erhalten Studierenden einen ersten Überblick über Möglichkeiten späterer Berufstätigkeit.

Das letzte Kapitel informiert dann noch über elektronische Informationsquellen für Pädagogische Psychologen. Das ist zweifellos ein begrüßenswerter Überblick, der allerdings bei der rapiden Entwicklung in diesem Bereich bald überarbeitungsbedürftig sein wird.

Mit 77 Seiten Literaturangaben bietet das Lehrbuch zweifellos jedem Leser bzw. jeder Leserin vielfältige Möglichkeiten der Vertiefung, bzw. der Überprüfung der in den Kapiteln angebotenen Darstellungen und Bewertungen.

In Kombination mit Detlev Rosts im gleichen Verlag erschienenen Handwörterbuch Pädagogische Psychologie und mit soliden Voraussetzungen aus der ersten Studienhälfte des Psychologiestudiums sowie mit Themenvertiefungen in Vorlesungen und Seminaren stellt das vorliegende Lehrbuch zweifellos ein konkurrenzloses Angebot für Studierende des Hauptstudiums in Psychologie dar. Es ist bereits so kompakt und umfangreich, daß man kaum wagt, noch thematische Vorschläge für die nächste Auflage zu machen: Schön wäre es, wenn die Herausgeber noch zwei Kapitel ergänzen könnten: Ein Kapitel zur heil- bzw. sonderpädagogischen Psychologie und ein Kapitel, in dem die Instruktionspsychologie konkreter auf Inhaltsbereiche wie Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen bzw. Schreiben bezogen würde. Letzteres ist die einzige Herausforderung, die noch von Pressleys & McCormicks Standardwerk Advanced Educational Psychology ausgeht.