Phantomgrenzen
Räume und Akteure in der Zeit neu denken

Anhand von Fallstudien wird in dem Band von Béatrice von Hirschhausen und anderen von Überbordungen, Überlappungen „heute existierende[r] politische[r] Grenzen in Europa“ (S. 13) aus- und dabei „interdisziplinär und induktiv“ (S. 8) vorgegangen. Auffällig dabei ist die Präferenz für „Ost- und Mitteleuropa“, scheint da doch „die politische Landkarte bis in die Gegenwart beweglicher als in Westeuropa“ (S. 26).

Band 1 der Reihe ‚Phantomgrenzen im östlichen Europa‘ beansprucht „programmatischen Charakter“, definiert das ‚Konzept‘, „präzisier[t] sein heuristisches Potential“ und positioniert sich „zwischen strukturalistischen Zugängen“ und „konstruktivistischen Betrachtungsweisen“. ‚Phantomgrenzen‘ resultieren dabei als „Wechselwirkungen dreier verflochtener Ebenen“: 1. „von den Akteuren erfahren und wahrgenommen“; 2. „durch Alltagspraktiken gestaltet und beständig aktualisiert“; 3. „durch planmäßige politische und administrative Interventionen implementiert“ (S. 9). Der zur Veranschaulichung dienende Zentralbegriff bedient sich als Muster der Geologie mit „ihren räumlich akkumulierten Ablagerungsebenen und ihrer im Querschnitt sichtbaren Aufbereitung in der Gegenwart“ (S. 107). Als Arbeitsinstrument führt er zum Aufweis von ‚Remanenz-Phänomenen‘, registrierbar „in Architektur, städtischen und dörflichen Siedlungsstrukturen, [...] der Repräsentation empirischer Daten in Statistiken oder Karten zum demographischen Verhalten, zum Wahlverhalten oder anderen sozialen Praktiken“ (S. 18). Fortdauernde Mentalitäten implizieren beständige utopische Haltungen, „schließt“ doch die „temporale Struktur von Erfahrung immer eine rückwärts wirkende Erwartung ein“ (S. 47).

Dabei soll dezidiert „der Eigenwert historischer Regionen“ (S. 19) erkannt werden, deren jeweilige Eigenmächtigkeit, entgegen zu einseitig verfahrenden, auf „spezifischen Wissensordung[en]“ und damit (hegemonial)machttheoretischen‚ ‚dekonstruktivistisch‘ fußenden Ansätzen (S. 21). Auf diese Weise braucht „der Raumrealismus der Analyse der Strukturen oder der Raumkonstruktivismus der Analyse der Diskurse nicht mehr Rücken an Rücken [zu stehen], sondern [kann] Hand in Hand voranschreiten“ (S. 106).

Konkret schaffen ‚Remanenz-Phänomene‘ „Erwartungsräume“, wo man nach wie vor davon auch geprägt, sich als „Teil einer Rechts-, Wirtschafts- und Behördenkultur [zu wähnen], in die man glaubte, Vertrauen haben zu können“ (S. 78). Als Beispiel werden etwa geboten Nachwirkungen von unterschiedlichen Modernisierungspraxen bei der Wasserversorgung in Regionen des ehemaligen Altrumäniens und des habsburgisch administrierten Teils (B. von Hirschhausen).

Die Beurteilung genannter ‚Erwartungsräume‘ als überwiegend sozial und politisch zuträglich oder problematisch erschließt sich nicht von selbst. Dabei wird kritisch, warnend auf jene „Schmerzsignale“, „Phantomschmerzen amputierten Gliedern vergleichbar“ verwiesen, die eine Basis „chauvinistischer Großraumgedächtnisse“ (S. 109) bilden, politisch instrumentalisierbare ‚restaurative Nostalgien‘, eine „‚Ruinophilie‘“ (S. 147).

Als ‚Fall‘ wird die ehemalige ‚Militärgrenze‘ zwischen dem Osmanischen und dem Habsburgischen Reich gewählt (H. Grandits): Obzwar sie „schon Jahrzehnte vor dem Zweiten Weltkrieg und noch mehr in sozialistischer Zeit in ihrer ‚historischen‘ oder alltagskulturellen Relevanz immer mehr an Bedeutung verlor“, fungiert sie nun „in ihrer rezenten historischen Inszenierung“, als „die ‚imperiale Grenze‘ wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein [rückte]“, als „Phantom einer (europäischen Zivilisations-) Grenze“ (S. 157).

Unübersehbar ist der auch politische Anspruch der Herausgeberinnen und Herausgeber: Der Einsatz für die Berücksichtigung der Verflochtenheit oben genannter dreier Ebenen ist verbunden mit einer bestimmten Hoffnung, wie sie eine Vordenkerin der propagierten Forschung ausdrückt: „‚Räumliche Formen können die zukünftige Entwicklung jener Geschichte/n verändern, die sie hervorgebracht haben.‘“ (S. 167); überhaupt „kann eine postkoloniale Perspektive, die sensibel für die europäische Binnendifferenzierung ist, zur Dezentralisierung Europas beitragen“ (C. Kraft). (S. 175)

Weittragende Brisanz also in einem relativ schmalen Band, angesichts aktueller Entwicklungen, wo allgemein staatliche Grenzen in Europa gegenüber einem Migrationsdruck mitunter für ‚nicht haltbar‘ angesehen werden.