Das in sich verkrümmte Herz
Anamnesen, Diagnosen und Perspektiven menschlichen Seins im 21. Jahrhundert

Der Band versammelt eine bunte Fülle von Aufsätzen zu einem breiten Themenspectrum. Die Beiträger widmen ihn dem Gießener Philosophen Helmut Meinhardt als Festschrift zu dessen 80. Geburtstag.

Das Vorwort des Hrsg. nennt Angst, Erfahrung der Sinnlosigkeit, Depression, modern im burn out wirklich, als Signaturen der Zeit. Die Menschen heute sind „innerlich krank“. Oder auch: wir leben mit Fichte in einem Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit. Was, wohlverstanden, Platon schon meinte, wenn er diese real existierende Welt als das me on, das nicht-Seiende erlebt, weit entfernt, getrennt, choris vom ontos on, dem wahrhaft wirklich Seienden.

Im Blick auf die Wissensmöglichkeiten übernimmt Speier eine Position des Jubilars: „den konjekturalen Charakter jeglicher menschlicher Erkenntnis“. Sie bewirkt „eine Defizienz gegenüber der absoluten Wahrheit“. Diese Position kann begriffen werden als ein Mutant der Kantschen Unterscheidung von Ding an sich [Wahrheit, Platonische Idee] und den Erscheinungen. Der Phänomenologe Husserl nannte sie später Abschattungen. Wir haben mit dem Großen Frankfurter Klassiker die Wahrheit nur als farbigen Abglanz, so auch das Gotteswort nur im Menschenmund.

Der Gießener Philosoph Manfred Klein widmet seine aspektreichen Reflexionen der Schrift De trinitate des Hl. Augustin. Der Bischof von Hippo – in seiner Jugend führte er zum Verdruss seiner schon christlichen Mutter Monica ein ziemlich ausschweifend-liederliches Leben [wie auch andere bedeutende Heilige und Schriftsteller, etwa Raimundus Lullus, der mallorquinische Ramon Llull, der in Nordafrika missionierte im Lebensraum Augustins] – Augustin erkannte die Trinität als ontologische Struktur, die zur Anthropologie gehört. Eine Augustinisch-anthropologische Trinität ist die Dreiheit von „Liebendes, Geliebtes, Liebe“. Sie hat ein fundierendes Pendant in der Struktur der Sprache, im Subjekt, Prädikat, Objekt: ich [Liebendes] liebe [Liebe] Petra [Geliebtes].

Trinität [da und dort velwechsert [E. Jandl] mit Trivialität] ist als Basis-Struktur des Seienden immer wieder zu beobachten, etwa in der von Husserl beschriebenen Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Hier gibt es nunc stans [Gegenwart], Retention [Vergangenheit], Protension [Zukunft]. Dabei ist das nunc stans schon immer wegfließend: am Ende eines Wortes ist dessen Anfang retentional. Ja, wie Heidegger in einer hellen Stunde – er hatte viele dunkle – unübertreffbar formulierte: die Sprache ist das Haus des Seins.

H. Speier weist in seinem Beitrag darauf hin, dass Schleiermacher dieses Trinitäts-Konstrukt, vermittelt durch Hegel, wieder aufgreift. Das Dreierschema von Antithese, These und Synthese müsse begriffen werden, meint der Platon-Übersetzer, „als die dialektische Selbstbewegung des ‚Geistes‘, der das eigentliche Wesen alles Wirklichen ist: der ‚absolute‘ Geist verharrt nicht in seinem Für-sich-Sein (als ‚Vater‘), sondern tritt aus sich heraus und setzt sich um in sein Anderes: Welt, Natur, Mensch (‚Sohn‘) um im menschlichen Erkennen und Verstehen dieser seiner Selbstbewegung (‚Hl. Geist‘) sich wiederzufinden und sich so in sich selbst zu vollenden.“ (165) Weißgott eine steile spekulative Deutung, die heute weithin befremdend wirken wird. Trinität als Selbstbewegung des Geistes ist als Tendenz nicht zu negieren: sie zeigt sich als Diversität, als Zersplitterung nicht nur in die Dreiheit sondern in die n-heit. Tot homines tot sententiae. Wahrheit im Singular ist rar; es gibt sie nur noch im Plural.

Die Trinität wird von Augustin focussiert – wie man heute sagt – wegen der christlich-göttlichen Trinität, die er für seine Theologie benötigt, sie hat indes eine Schwester, die Trinität  regiert nicht allein im Seienden: es ist die von Goethe und Schelling favorisierte Polarität, die Zweiheit [die in der Lebenswelt besonders greifbar wird auf dem Bankkonto und in Wärme- und Kältegraden, sowieso bei gut und böse].

Helmut Meinhardt habe, darauf weist Gabriele Bosch in ihrem Beitrag hin, bei Bonaventura aufgezeigt den Menschen als Wanderer in der Wüste, entfremdet von Gott, in sich verkrümmt, incorvatus. Die incurvatio, die Verkrümmung des Menschen, seines Herzens, wird als Folge der Erbsünde, der peccatum originale, beschrieben. Incurvatio wird als Abweichung vom graden Weg gedeutet, als Wende hin zur weltlichen Lust. Kant hatte es ähnlich formuliert [worauf der Bonner Philosoph Krobusch hinweist]: aus so krummem Holze als wie der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Grades werden. Eine moderne Beerbung des Erbsünde-Topos kann die Sünde aber keinesfalls als persönliche Schuld sehen, wie noch das schöne oder eher vielleicht unschöne Kirchenlied: Durch Adams Fall ist ganz verderbt / Menschlich Natur und Wesen, / Dasselb Gift ist auf uns vererbt, / Daß wir nicht mocht'n genesen [Lazarus Spener, 1624]. Die Erbsünde als Sünde, im Sinne von Schuld, persönlicher Schuld, zu begreifen, ist ein für die Vernunft unerträglicher Dogmatismus. Schuld ist individuell. Was Adam und Eva getan haben, geht uns nichts mehr an. Diese Denkfigur wurde analog praktiziert bei den Juden: man machte sie verantwortlich für die Kreuzigung Jesu [ein Ereignis, das als Opfertod im göttlichen Heilsplan vorgesehen war].

Die heutige Theologie wird eher die allgemeine menschliche Gebrechlichkeit darunter begreifen, also schon die den Lateinern bekannte fragilitas, corruptio und perversitas des Menschen. Auch hier hat Kant seinen Beitrag geliefert: es ist das radical Böse im Menschen.

Bodil von Thülen behandelt die scientia experimentalis des Nicolaus von Kues, ein wichtiger Hinweis auf frühe empirische Verfahren. Sie bedauert, dass in der ganzen Überfülle moderner Theoriebildungen doch keine ganzheitlichen Erkenntnisse mehr gelingen.

Bianca Geiger geht auf Soren Kierkegaard ein, der einen Weg zur Selbstheilung der kranken Seele zeige: „Der Weg zum Glück, verstanden als die Vereinheitlichung der Gegensätze des menschlichen Selbst im Glauben, kennzeichnet sein Gesamtwerk.“ Das hat die Tradition als ataraxia, auch als Gelassenheit verstanden.

Sie lässt sich dann auf das dogmatische Problem der Erbsünde ein, ein theologisch durchfurchter Acker, wenngleich dieser Begriff nicht in der Bibel auftaucht. „Die Möglichkeit der Sünde ist für die Dogmatik keine Schwierigkeit, sie existiert seit Adams Sündenfall und ist damit Realität.“ Selig, wer so [was] glauben kann. Auf diesem Feld haben die Theologen die Griffel gespitzt und steile Theoreme formuliert; Wortwolken, substanzfrei.

Die Erlösung allein durch Gnade kann gar nicht ernsthaft bestritten werden. Der Patron, als Schöpfer des Himmels und der Erden, hat alle Macht und Kraft, so zu handeln, wie er will. Auch für die beschränkte software des menschlichen Verstandes willkürlich: denn warum nimmt der Herr das Opfer Abels an, nicht aber das des erstgeborenen Kain? Hier haben viele (gläubige) Denker im Nebel gestochert. Auch Augustin, der mit der praescientia Gottes solches Verhalten begründen will. Gott weiß, dass Kain, so wie später Esau, böse handeln wird – in einer Zukunft, die er allwissend schon im Voraus weiß. Juristisch ist das heute eine Vorverurteilung, gegen die sich die Vernunft wehrt.

H. Speier schlägt sich herum mit Hegels hybridem Theorem in der „Wissenschaft der Logik“, dass „sie die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“. Der Prager Philosoph Bolzano hat das aufgegriffen, wenn er sagt, die Logik formuliere „Sätze vor Gott“. Das ist aber viel bescheidener, ruhiger als die überzogene These des Schwaben. Man darf annehmen, dass er das dachte, während er einige Viertele schlozte. Über Hegels Position kann man heute nur noch gelassen lächeln, dass die Logik das System der reinen Vernunft sei, „die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selber ist“. Hegel geht weit über das mehrheitlich oder gar konsensual Erreichbare hinaus, wenn er die „Überwindung des Gegensatzes von Bewusstsein und Objekt“ für möglich hält.

Der Band ist ein bunter Blumenstrauß für Helmut Meinhardt, er wird so schnell nicht verwelken. Für den Jubilar aber gilt: ad multos annos philosophicos!