Denken wie ein Neandertaler

Natürlich, es ist zuerst der Buchtitel, der innehalten lässt und seine Wirkung so nicht verfehlt, besonders in Kombination mit der wenig jetztmenschlich wirkenden Titelillustration. Wie soll das funktionieren, die Denkweise der Neandertaler zu rekonstruieren, bei den wenigen materiellen Hinterlassenschaften, die zudem ihrer Natur nach kaum etwas zur geistigen Welt dieser frühen Menschen aussagen können? Und doch schaffen es die beiden Autoren, der an der University of Colorado lehrende Thomas Wynn, Archäologe mit den Forschungsschwerpunkten Paläolithikum und kognitive Evolution und Frederick L. Coolidge, Psychologe, der sich vorwiegend mit Verhaltensgenetik und kognitiver Archäologie beschäftigt, anhand von archäologischen Hinterlassenschaften und Fossilien einige überzeugende Aussagen über das geistige Leben der Neandertaler zu machen, und dabei ihr Lesepublikum, im deutschsprachigen Raum durchaus bemerkenswert für eine Publikation mit wissenschaftlichem Anspruch, richtig gut zu unterhalten.

Die Rezeption des Neandertalers hat sich in den rund 150 Jahren seit der ersten Entdeckung von Skelettresten dieses frühen Menschentyps ziemlich gewandelt, vom tumben Keulenschwinger bis zum anerkannten Kulturträger. Es gibt zahlreiche Berührungspunkte mit dem modernen Menschen, aber auch einige eklatante Unterschiede. Zunächst stellen die Autoren die Neandertaler in ihren Lebensumständen vor und betonen dabei zu Recht die prekären Lebensumstände dieser frühen Menschen in ihrer harten und unwirtlichen Umwelt während der letzten Eiszeit. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass es vor allem die Eigenschaften Durchhaltevermögen (man denke an Hunger oder Schmerzen) und Vorsicht vor Fremden und eine wichtige emotionale Komponente, nämlich Einfühlungsvermögen und positive Gefühle gegenüber Clan- und Familienmitgliedern sind, die den Charakter der Neandertaler bedingt durch ihre Umwelt ausgemacht haben. All diese Dinge sind auch dem heutigen Menschen nicht fremd und erleichtern so einen Zugang zu der Welt der Neandertaler.

Was sind also die Unterschiede zum modernen Menschen? Um dem auf die Spur zu kommen, beschäftigen sich die Autoren ausführlich mit Themen wie Jagd und den technischen Grundlagen dafür und allgemein mit der Nutzung von Ressourcen und der Ernährung. Darüber hinaus berühren sie auch eher abstrakte Themen wie Sozialverhalten und den Bereich von Religion und Kult, festgemacht wie so oft in der Archäologie am Umgang mit den Toten und der Verwendung von Symbolen. Zur Untermauerung ihrer Thesen stützen sich Wynn und Coolidge auch, in guter archäologischer Tradition, auf Erkenntnisse aus dem Lebensbereich rezenter Jäger- und Sammlerkulturen. Die Autoren stellen die These auf, dass die Neandertaler in ihren eher kleinen sozialen Gruppen jeweils nur relativ begrenzte Gebiete erschlossen, diese aber vor allem durch ein herausragendes Langzeitgedächtnis perfekt beherrschten, sowie besonders in der Werkzeugherstellung erstaunliche Fähigkeiten entwickelten. Wer einmal versucht hat, wirklich effiziente Steinwerkzeuge durch Abschlagtechnik herzustellen begreift schnell, dass dazu zunächst ein theoretisches Modell und somit eine echte geistige Leistung nötig sind, Stichwort Levalloistechnik.

Den Knackpunkt des Unterschiedes zum modernen Menschen sehen Wynn und Coolidge darin begründet, dass die Neandertaler letztlich in ihrer Entwicklung sozusagen stehen geblieben sind, der Grund dafür liegt laut den Autoren in der bei ihnen wenig entwickelten „Theory of Mind“, also der Fähigkeit, sich in das Denken und Bewusstsein, ja die Befindlichkeit anderer Personen hineinzuversetzen, eine Fähigkeit, die laut Psychologen beim modernen Menschen in der Kleinkindphase mit etwa vier Jahren einsetzt. Negativ beeinflusst worden sei das Ganze durch das Leben in Kleingruppen, bestehend hauptsächlich aus Familienmitgliedern ohne nennenswerte Arbeitsteilung – all das machte es wohl nicht nötig, „größer“ zu denken und auch arglos gegenüber Gefahren durch anders organisierte Gruppen wie dem modernen Menschen des Jungpaläolithikums (Stichwort Cro-Magnon-Mensch), denen die Neandertaler aus diesen Gründen wohl unterlagen. Eine durchaus interessante Theorie, die allerdings durch das von den Autoren angenommene Fehlen von Symbolen als Identitätsstifter und Zusammenhalt leidet – nur weil diese nicht bekannt sind oder eben nicht erkannt wurden, kann man ihr Vorhandensein nicht in Abrede stellen, schließlich gibt es in der Archäologie immer das Problem der untergegangenen und völlig unbekannten materiellen Kultur aus vergänglichem Material. Es ist allerdings doch auffällig, dass offenbar keine bildlichen Darstellungen von Neandertalern produziert wurden und auch das Prinzip der Dekoration nicht zur Anwendung kam.

Genauso verhält es sich mit der Einschätzung der Autoren, die Neandertaler hätten nicht über Rituale oder eine narrative Tradition verfügt. Dies erscheint angesichts von Parallelen bei vielen anderen schriftlosen Kulturen als höchst zweifelhaft, zumal die Existenz und der Einsatz von Sprache als sehr wahrscheinlich gelten.

Als Fazit umreißen die Autoren die Persönlichkeitsmerkmale eines durchschnittlichen Neandertalers als „pragmatisch und auch skrupellos, wenn nötig; stoisch; risikotolerant; empathisch und einfühlsam; neophobisch; einfallslos, dogmatisch und unflexibel; fremdenfeindlich; direkt, aber lakonisch“ – ein durchaus plausibles Schlusswort und so auch sicher mit einigen Charaktereigenschaften des modernen Menschen zu übertragen, obwohl die Neandertaler, wie mehrfach herausgestellt, nicht zu den Vorfahren des modernen Menschen gezählt werden können.

Das durchweg trotz der anspruchsvollen Thematik unterhaltsame und kurzweilige Buch schließt mit einem hilfreichen Glossar, einem Register und einer ausführlichen, nach den einzelnen Kapiteln gegliederten Bibliografie ab.