Sarajevo
Die Geschichte einer Stadt

Gewiss werden nun maßgebliche Folgewirkungen innerhalb der Geschichte Sarajewos erkennbar, ohne diesen Schauplatz in die zwingende Logik eines Fanals zum Weltkriegzu pressen. Erkennbar sind Abdrücke der ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘ (S. 12), indem hier „Gruppen (nicht) ‚an sich‘ ausschlaggebend [sind], sondern die Akteure und Prozesse, welche die Aktionsfelder abstecken, in denen sich Individuen zurechtfinden müssen oder gegen die sie sich zu Wehr setzen“ (S. 362).

Dabei stechen Antriebe zur Stadtentwicklung unter Konditionen der Außensteuerung hervor, verquickt mit örtlich angestoßenen Schüben unter Bedingungen von Parallelentwicklungen. – Bereits der Stadtgründer (1463/64), Isa-begIsaković, repräsentiert besagte Verquickung, indem er als militärischer Karrierist im Osmanischen Reich und gleichzeitig als Landessohn die Reihe jener Stiftungen zum Ausbau einer Infrastruktur sowie Kommunität anführt. ‚Außensteuerung’ meint zudem: Graecophone aus der Istanbuler Zentrale besetzen die höchsten Kirchenämter; das ‚Großherrliche Handschreiben‘ von 1839 dekretiert „die Gleichheit aller Religionsgemeinschaften“ (S.125), mit „aufkeimende[m] Misstrauen“ im Gepäck (S.139); nachdem „Bosnien sich selbst finanzieren“ (S.173) sollte, bleibt in der habsburgischen Ära die Agrarfrage ungelöst und das Elementarschulwesen vernachlässigt; die jeweiligen Zentralen verweigern hartnäckig die Zuerkennung eines (gesamt)bosnischen Nationscharakters; das zwischenkriegszeitliche Regime verschüttet das osmanische Erbe (S. 260) und lässt offen, „ob Bosnien-Herzegowina eine befreite Provinz oder Feindesland“ (S. 250) ist; letzteres definitiv ab April 1941 mit der Besetzung durch die kroatische Ustascha und die deutsche Wehrmacht; das die ‚Jugoslawienkriege’ abschließende Vertragswerk von Dayton von 1995 verwandelt „Bosnien-Herzegowina in die Karikatur eines Staates“ (S. 347). – Was aber bliebe dann, dem Verfasser nach, Sarajewo?

Stadtintern erfolgen jene erwähnten Schübe, welche die personellen und topographischen Form(at)ierungen Sarajewos spezifisch abgeben, unter Konditionen von ‚Parallelentwicklungen‘: Zuallererst ist der Sandžak Bosnien „Grenzprovinz und Ausgangsbasis für die osmanischen Eroberungszüge“ (S. 31) und Sarajewo davon ein den Handel und das Handwerk aktivierendes logistisches Zentrum und dementsprechend Ziel habsburgischer Zerstörung (1697). Besagte Domäne ließ von einer ‚Zunftrepublik’ (S. 98) sprechen, obwohl Handwerk und Handel nur eines der „Subsysteme“ bildeten, die zusammen mit anderen einflussreichen ‚Systemen’ „die Formierung eines einheitlichen Rechtssystems Stadt“ verhinderten. Sarajewo blieb„eine Agglomeration vieler verschiedener Teile, die nicht zu einem Ganzen zusammenwachsen konnten und sollten“ (S. 56). Das in vorosmanischer Zeit religiös weder homogene noch gefestigte Bosnien (S. 70) kreierte „poturi“ (‚Halbmuslime‘) (S. 729). Mindestens sechs Sprachen ergaben mit der kulturellen Kluft zwischen Schrift- bzw. Hochsprache und Alltagsidiomen ein „Sprachbabylon“ (S. 87). ‚Parallelgesellschaften‘ gab es auch in Sarajewos Belagerungsgeschichte (1992-1996): „Weder die Belagerer noch die Verteidiger bildeten eine einheitliche Gruppe“.(S. 331) Selbst in der aktuellen Entwicklung bestehen Gegensätze zwischen ‚alteingesessenen‘ und ‚neuen Sarajevoern‘. (S. 353/354)

„Wenn Bosnien ein Jugoslawien im Kleinen war, dann war Sarajewo ein Bosnien im Kleinen“ (S.17), notiert der Autor und befördert so nicht die Sicht einer russischen ‚Matrjoschka‘, mit ihren verschachtelten Puppen. Dagegen dient Sundhaussens Faktensammlungdem Aufweis der Einflüsse eben nachgezeichneter ‚Sphären‘ auf die Stadt, weniger deren Ineinanderwirken. – Sollte dies die implizite Charakterisierung Sarajewos als eine Stadt der schwierigen Wägbarkeit, ein ‚opakes‘ Sarajewo sein? – Jedenfalls kann man sich mit seiner Biographie, genötigt zu bildhaften Vergleichen, in dieser Stadt periodisch in verdichteter Weise Versammlungen von Menschen als ‚spielmachende Spielbälle‘ vorstellen: So etwa in der Periode der Umzingelung Sarajewos (zugleich „die längste Luftbrücke in der Geschichte“; S. 326), wo am 5. Februar 1994, zum zehnjährigen Jahrestag der Olympischen Spiele, ein Mörserangriff 68 Tote und 144 Verletzte verursachte (S. 327).Allerdings waren die Kreise der Umzingelung erweitert, denn stadtferne„ (operierten) neben regulären Armeen und Polizeieinheiten mindestens 83 identifizierte paramilitärische Banden“ (S. 318). – Der Autor schlägt thesenhaft vor: Fortgesetzt Wirkungen aus der Ferne beizusteuern, ist die gemäße Weise sich auf Sarajewo zu konzentrieren.