Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011
Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen

Der als Forscher bereits seit 1968 überaus landeskundige Autor hat sein schon mehrfach veröffentlichtes Wissen über Jugoslawien nun auf die jüngste Etappe gerichtet, die Nachfolgestaaten. Jugoslawien‘ sei, so sein Fazit, nunmehr ein allgemeines „Lehrstück der Banalität“, indem „die Verhaltensweisen, die [zum Zerfall] führten“ banal waren, nicht „die Ereignisse“(12). Verblüffend einfach erscheint bei ihm die Logik zweier einander ausschließenden Haltungen: Ablehnung ethnischer Säuberung heißt „Akzeptanz eines multiethnischen Staates“; ‚ethnische Homogenität‘ hingegen ‚ethnische Säuberung‘(69).

Im den Jahren 1943 – 1991 geltenden ersten Teil  betont Sundhaussen die überaus spezifische Konstruiertheit dieses Staates, dessen Entwicklung „von einem verarmten Agrarland [zur] Schwelle [der] Vollindustrialisierung“ (131); schon deshalb kann man ihm Bewunderung kaum versagen. Bald überspannte die Gesellschaft jedoch ihre Kräfte; ablesbar etwa an der Auslandsverschuldung, den mangelnden betriebswirtschaftlichen Kenntnissen in den sich selbst verwaltenden Betrieben, der unvollständigen Entstalinisierung. Das ‚jugoslawische Volk‘ blieb stets nur das ‚arbeitende‘, rang sich aber selbst zu keinem durch (168). Schließlich stellten organisierte ‚Meetings‘, das arrangierte ‚Sich-Ereignen des Volkes‘ (257) diesen Staat endgültig in Frage, obwohl es 1990 noch eine Mehrheit für ihn gab (281). Vor dem Finale dann die Umwertung des Staates, als UNwert (dem Autor nach kroatischen Ursprungs): dessen Zerstörung wurde „eine Frage der Ethik, der Ehre“ (284);  wobei Sundhaussen die dafür verantwortlichen ‚Gruppierungen‘ genau benennt (303).

Im zweiten Teil werden jene ‚postjugoslawischen Kriege‘ behandelt, die zum Trost wenigstens einen internationalen ‚Umwertungsprozess‘ eingeleitet haben: „Die Rechte von Staaten traten hinter den Rechten von Menschen zurück“(341). Hier holt der Autor weiter aus und bietet mit einer faktengeleiteten Erkenntnistheorie eine politische Pädagogik, Instrumente zum „Verarbeiten“ (441) dieser Art des Krieges an. Mutig setzt Sundhaussen auf „Relativierungen“, die „nichts anderes als eine In-Beziehung-Setzung“ seien, um zwar nicht „ereignisgeschichtlich“, wohl aber „sozialpsychologisch und strukturell“ den „Massenmord an den Juden im Zweiten Weltkrieg“ mit den besprochenen Handlungen „vergleichbar und wiederholbar“ zu präsentieren (388). Im Ergebnis mit Gewinn arbeitet er psychohistorisch, indem er von „Gewaltfähigkeit“ als einer „Ressource“ (389) spricht, welche aktiviert wird oder eben nicht, von „Gewalt“, die „nicht ausbricht“, nicht sich ‚ereignet‘, „sondern generiert“(394) wird; zusammengefasst: „Sobald die vormals gültigen Regelwerke und Schranken, die gesellschaftliches Handeln leiten und strukturieren, aufgehoben werden und kollabieren oder ihre Einhaltung nicht mehr kontrolliert wird, kann sich Massengewalt mehr oder minder schrankenlos entfalten“(395). So besehen, unterstellt der Autor den geschilderten Ereignissen den Charakter einer, ins Destruktive gewendeten, Art Aus-Zeit, in der man „alles das tun“ darf, „was z.B. nach den Zehn Geboten verboten ist“ (395). Ja mehr noch, Sundhaussen erhebt aus den Quellen, dass „zur ‚Pflicht‘[zuweilen] schnell auch das Vergnügen“ kam, ein Fun-Effekt, gezogen aus der verspürten „Gewalt über Leben und Tod“ (396).

Thesenhaft formuliert er am Schluss des Werks als mentales politisches Erbe aus dem „sozialistischen Jugoslawien“ den „nationale[n] Proporz“, wonach  angesichts der Verantwortungsfrage in Bezug auf die Gewalteskalation sich bequem anbietet: „wenn alle gleichermaßen schuld waren, sind alle gleichermaßen unschuldig“ (431). – Die Stärke von Sundhaussens Argumentation besteht u.a. darin, den Aufweis einer derartigen Entwertung, ja zum Verschwinden gebrachten Verantwortung mit dem Verschwinden eines Staates enggeführt zu haben, dessen Verschwinden so manche Betroffenen sich trotzdem oder eben gerade deswegen nicht erklären können. – Für die Leserschaft dieser konzisen Darstellung gilt dies nicht.

Selbst für Hartnäckige, die fragen, ob „Jugoslawien hätte erhalten werden können“, hat er eine ‚gewöhnliche‘ Antwort parat: „dass dies theoretisch möglich gewesen wäre, weil theoretisch fast alles möglich ist“ (517). – Das Bestechende ist, dass die Thesen bei Sundhaussen einfach einleuchten.