Adelige Moderne
Grossgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848-1918

Um des Adels neue Kleider ist es der Verfasserin in ihrer ‚normativen Entkleidung‘ (vgl. S. 327) zu tun, womit sie einen weniger ideologischen, vor allem keinen Blick aus nationalstaatlicher Perspektive meint. Deshalb nennt sie ihr Werk provokant ‚adelige Moderne‘, lange in der Historiographie ein Widerspruch in sich, in jüngster Forschung jedoch für durchaus vereinbar gehalten. – Absichtlich wählt sie zur Untersuchung Großregionen, nicht Nationalstaaten. – Im Ergebnis „(hatten) Adel und ländliche Gesellschaften sehr wohl gestaltend (teil) an Industrialisierung und Demokratisierung, Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und Rationalisierung – mithin an Moderne“ (S. 327). Ihre methodische Argumentationslogik unterstellt, dass „Adelsherrschaft denen, die sie in Aushandlungsprozessen anerkennen sollten, einen Nutzen bieten (musste)“ (S. 316). Alltägliche Anstrengungen darin, und nicht Despotie, entschieden darüber, ob die Festigkeit ihres Regimes „erreicht oder verspielt, in Frage gestellt, unterlaufen oder begrüßt“ (S. 33) wurde.

Tönsmeyer räumt auf mit dem Urteil, der Adel „sei des Rechnens und profitorientierten Wirtschaftens nicht mächtig gewesen“ (S. 55), schließlich „ermöglichten (erst) die erwirtschafteten Gewinne die Unterstützung von altgedientem Personal oder die Finanzierung von Schul- und Kirchenbauten“ (S. 193), und dies ist nur eine der vielfältigen, hier unterbreiteten Leistungen. Sicher wurden dadurch sozialpädagogische Haltungen wie „Anerkennung, Respekt und Zuneigung“ (S. 197) gefordert und auch erzielt, allerdings aufruhend auf „Ankerpraktiken; hier: in Rechtsgewohnheiten, die in die Feudalzeit zurückreichten“ (S. 149). Dennoch musste ganz ökonomisch auf das „Austarieren von Marktinteressen und Deputaten“ (S. 149), der Vergabe von Naturalien, geachtet werden, ja zuweilen zur Arbeitsplatzsicherung auf Kosten von Rentabilität (vgl. S. 105).

‚Wohltätigkeit statt Sozial- und Schulpolitik‘ nennt sich ein Kapitel und stellt eine solche Politik wohl auch dar: von der Taufe bis zur Armenstiftung, ja den Festen mit „Praktiken, durch die die Akteure einander zu verstehen geben, wer sie sind“ (S. 250).

Eine Konkurrenzsituation ergab sich gegenüber dem Bürgertum, wo der Adel in den lokalen Vertretungskörpern sehr wohl vertreten war, gegenüber dem Staat und dessen Rechtssystem, dann – im Falle Böhmens – in Konfrontation mit der habsburgischen ‚Leistungsverwaltung‘ (vgl. S. 319); auch einsickernde, hineingetragene (vgl. S. 325) Nationalisierungstendenzen liefen den adeligen Interessen im überwiegend zweisprachigen Böhmen zuwider. – Einen Konsens zu finden, dafür gab es Anlass genug, woraus die Autorin schließt, dass in „der flexiblen Anpassung unter Wahrung der Kernbestände der eigenen Identität […] überhaupt die zentrale Herrschaftsressource des Adels gelegen haben (dürfte)“ (S. 318).

Im Vergleich englischer mit böhmischen Verhältnissen fördert Tönsmeyer erhebliche Unterschiede zutage: Allein schon die größere Fluktuation des Personals in England, wie sich der englische Hochadel in Relation zum böhmischen „sehr viel mehr in einer Position der Stärke (gefiel)“ (S. 305). Renitenz wurde in England mehr mit Landverweis beantwortet, in Böhmen wurde mehr ausverhandelt.

Tönsmeyer idealisiert nicht: Das ‚Aushandeln‘ geschieht nicht ‚auf Augenhöhe‘ (vgl. S. 19), „die Gesindeordnungen (schrieben) ein deutlich asymmetrisches Verhältnis zwischen Herrschaft und Dienerschaft fest“ (S. 102). ‚Autorität‘ und ‚soziale Kontrolle‘, (vgl. S. 73), „das Alltagsmanagement der Güter“ (S. 115) konnte bedrückende, eine rechtlich verfasste (wie vor 1848) Abhängigkeit durchaus ersetzende Form annehmen.

Entgegen landläufiger, im öffentlichen Bewusstsein stark verankerter Darstellungen des Adels, zeigt die Sozialhistorikerin hier eine ungewohnt betriebsame Elite, durchaus ihr Weh, besonders jedoch ihr Wohl.