Tod und Jenseits in der Schriftkultur der Frühen Neuzeit

Wohin kommen wir nach dem Tod? Eine verbindliche, einheitliche Antwort wird niemand erwarten wollen – wieso aber gibt es eine Vielzahl verschiedener Ansätze in einem einheitlichen Kulturkreis? Einer ersten Vermutung nach würde eine Antwort wahrscheinlich lauten, jede Konfession habe ihre eigene Vorstellung von Jenseits. Eine weitere These würde vermutlich aussagen, jede Zeit habe ihre eigene Idee vom nachtodlichen Leben. Und ein dritter Punkt würde anführen, jede soziale Schicht habe ihre eigenen Himmel, der sie im Tod aufnimmt.

Der aus der gleichnamigen Wolfenbütteler Tagung hervorgehende Band befasst sich mit derart unterschiedlichen Jenseitsvorstellungen (vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1255 u. http://diglib.hab.de/periodica/wbi/2006-31_1_4/WBI2006-S38.pdf). Er versammelt eine Reihe von Vorträgen, die für die frühe Neuzeit „Konzepte vom Tod und Jenseits“ „interdisziplinär und interkonfessionell“ den „Tod als Bedingung und Pforte zur jenseitigen Ewigkeit“ diskutieren (S. 7). Theologen, Historiker und Ethnologen haben sich neben Germanisten und Bibliothekswissenschaftlern zusammengefunden, Tod und Heil im Spiegel zeitgenössisch-frühneuzeitlicher Literatur sowie dinglicher Hinterlassenschaften zu thematisieren und den Blick auf deren gegenseitige Abhängigkeit zu fokussieren. Neben den Vortragstexten ist reichhaltig Bildmaterial aus dem Bestand der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel dem Band erläuternd beigegeben worden. Ein Themenstrang des Buches ist die Frage, welche Voraussetzungen verschiedene Konfessionen für den Einzug in eine himmlische Ewigkeit verlangen. Dies geschieht einerseits übersichtsartig, andererseits prägnanter in der Darstellung von Einzelschicksalen, die als Mosaiksteinchen einer Gesamtschau ein sehr differenziertes Bild abgeben. Die verschiedenartigen Überlieferungsformen, denen sich die Autoren angenommen haben (z. B. Grabsteine, Leichenpredigten, Literatur), erschweren natürlich eine vergleichende Analyse. Dennoch sind die zahlreichen Detailinformationen durchaus geeignet, die im Buchtitel enthaltene Fragestellung ausgiebig zu beantworten.

Als auffälligstes, Artikel übergreifendes Ergebnis ist festzuhalten, dass das offizielle theologische Diktat, ganz gleich welcher Konfession, im privaten den ortstypischen, familiären oder höchst individuellen Himmelsvorstellungen angepasst wird, oder wo dies konzeptionell nicht möglich ist, dem auch entgegenstehen kann.

Auf ungetauften Kindern liegt bei verschiedenen Autoren ein Fokus. Susan C. Karant-Nunn (S. 11-22) bezieht sich auf eine Geistergeschichte, deren Protagonist ein ungetauftes, von der Mutter getötetes Kind einer Baptistin ist, das in seinem Sterbehaus umgeht. Durch Güte ist die Gunst des Gespenstes zu gewinnen, anderenfalls vertreibt es die Hausbewohner. Diese Interaktion zwischen Toten und Lebenden wurde von der Reformation als Teufelswerk abgetan – nicht der Geist eines Verstorbenen, einem Poltergeist entsprechend, treibe sein Unwesen, es wären Illusionen des Teufels selbst. Nach dem Tode befehle Gott einen zu sich, um beim Jüngsten Gericht seinen Platz im Himmel oder in der Hölle einzunehmen – entgegen der Vorstellung, alle Missetäter werden sofort nach ihrem Tode in die Hölle geworfen; Gott strafe Sünden auf Erden statt dessen mit Krankheit. Dieses in der Reformation neu formulierte Konzept musste sich im 16. Jahrhundert erst gegen ältere Vorstellungen durchsetzen. Ein Überbleibsel dieses Konflikts ist z. B. die Formulierung „Ruhe in Frieden“, womit der womöglich ruhelose Geist davon abgehalten werden soll, unter die Lebenden zurückzukehren; eine Vorstellung allerdings, die im Reformatorischen ohnehin keinen Platz mehr hatte.

Marion Kobelt-Groch beschreibt Aufbau und Inhalt von lutherischen Leichenpredigten für ungetauft verstorbene Kinder des 16. und 17. Jahrhunderts (S. 63-78). Kinder, die tot auf die Welt kamen, befanden sich nach damaliger Vorstellung im sog. Limbus puerorum, einer Art Zwischenreich – nicht bei Gott aber auch nicht in der Hölle. Die Babys sollten nach dem Wunsch vieler betroffener Eltern aus dieser Sphäre herausgeholt werden. Während die katholische Kirche an ihrer Limbus-Programmatik bis in das 18. Jahrhundert festhielt, verfasste Luther bereits wohl um 1541 oder ein Jahr darauf eine entsprechende Trostschrift, vielleicht auch aus der eigenen Vita heraus, den Tod seiner Tochter Magdalena verarbeitend. Da es kein verbindliches theologisches Konzept hinter derartigen Predigen gibt, haben sie einen stark individuellen Charakter. So bauen sie auf biblischen Zitaten auf, zu denen etwa gehören: „Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen“ (Mt 19,14) oder die Beschreibung des Bundes der Menschen mit Gott, der auch den Samen mit einschließt (Gen 17). Predigen können bis zu 40 Seiten erreichen, die die Verbindung zwischen Gott, Eltern und verstorbenem Kind fantasievoll und in Wir-Formulierungen gehalten ausschmücken. Fragen nach dem frühen Tod der Babys werden oft mit göttlicher Gnade erklärt, um z. B. Schmerzen der Kleinen zu beenden. Dabei werden oft auch andere protestantische Richtungen abgewertet, die eben keine Rettung für die verstorbenen Kinderseelen garantieren können.

Eva Labouvie (S. 79-96) mit ihrer Untersuchung zur Wiedererweckung toter Neugeborener und Michael Prosser (S. 183-199) zur Seelenexistenz ungetaufter Kinder schließen diesen Themenkomplex ab.

Aus den weiteren zahlreichen interessanten Beiträgen seien exemplarisch noch zwei Beispiele erwähnt: Bernd Ulrich Hucker (S. 169-182) hat anhand der verschiedenen Grabinschriften in den Überlieferungen des Eulenspiegelbuches die dahinterstehende Jenseitsvorstellung untersucht. Da Eulenspiegel die Taten Christi persifliert oder dessen Taten in das Gegenteil verkehrt, ist sein literarischer Charakter diabolischer Art. So stirbt er denn auch ohne Absolution, und er wird wie ein Ketzer und Selbstmörder – allerdings aus einem Versehen heraus – auf dem Bauch liegend begraben. Eine Kopie des Grabsteins hat sich in Mölln erhalten, um 1545 angefertigt anstelle eines angeblich um 1350 entstandenen. Die Textstruktur entspricht den mittelalterlichen Gepflogenheiten. Inhalt und Form drücken allerdings die Ambivalenz aus, die einen Narren zu jener Zeit zuteilwurden.

Der Begriff „Schriftkultur“ ist im anzuzeigenden Band weit gefasst, da beispielsweise auch Grabmäler untersucht werden. Jene ab der frühen Neuzeit sind Forschungsobjekt von Norbert Fischer (S. 201-212), der an ihren Bildern und an den auf ihnen enthaltenen Texten den Wandel der Jenseitsvorstellungen abliest. Die „selige Erlösung“ wird im Protestantismus symbolisch durch einen neuen Bildfundus ersetzt. Statt des Gekreuzigten oder des „himmlischen Jerusalems“ wird zunehmend der Himmelsaufstieg thematisiert. So tritt etwa der Schmetterling zum Bildrepertoire hinzu, und die Texte spiegeln den Glauben an eine „fröhliche Auferstehung“ wider. Ab dem 18. Jahrhundert wechselt die Perspektive auf den Grabsteinen: Waren die älteren Texte Mahnung an die Hinterbliebenen, schreiben diese nun ihre Trauer auf den Grabmälern fest, teilweise durchzogen mit Elementen antiker Vorstellungswelten.

Der anzuzeigende Band ist ein gelungenes Kompendium zum Tod und Jenseits in der Schriftkultur der frühen Neuzeit. Ein Hauptaugenmerk des Bandes liegt auf der protestantischen Theologie, der Katholizismus ist bei den Untersuchungen zurückgenommen.

Wolfenbütteler Forschungen, 119. ISSN: 0724-9594