„Das Leichenhaus der Bücher“. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Band 19. Hg. von Dan Diner.

Das Thema Raubgut und Restitution der durch die Nationalsozialisten verschleppten jüdischen Kulturgüter hat durch den medial vielbeachteten Fall ‚Gurlitt’ in den letzten Monaten neue Aktualität erhalten. An diesem – in der Wohnung Cornelius Gurlitts wurde eine große Sammlung sogenannter Raubkunst gefunden – wird auch deutlich, wie weit dieses Angelegenheit noch bis in die Gegenwart reicht und wie komplex die damit verbundenen Rechtsfragen sind.

Erste Restitutionsbemühungen von geraubten Büchern und kulturellen Gegenständen begannen bereits während des Krieges und in großem Umfang unmittelbar nach Kriegsende. Diesen widmet sich Elisabeth Gallas in ihrer Studie „Das Leichenhaus der Bücher“. Sie legt dar, dass „Raub und Verwüstung kultureller Zeugnisse keine Randerscheinungen, sondern inhärente Bestandteile des deutschen Vernichtungskrieges gegen die europäischen Juden waren“ (S. 11f.). Der Bewahrung und Rückführung der Gegenstände kam somit eine Abwehr des spurlosen Verschwindens der jüdischen Opfer und der Vernichtung „der europäisch-jüdischen Geschichtskultur und ihres Gedächtnisses“ (S. 12) zu.

Gallas liefert damit auch ein Gegenbild zu der häufig postulierten Vorstellung vom Schweigen und der Verdrängung der Opfer und Täter nach Kriegsende. Diese Sichtweise, so Gallas, marginalisiere insbesondere die bedeutsame Auseinandersetzung der Organisation „Jewish Cultural Reconstruction“ (JCR) mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Schon Die 1947 in New York gegründete JCR hatte – gemeinsam mit der amerikanischen Militärregierung – die Aufgabe, die Suche und Rückerstattung der Millionen geraubten jüdischen Kulturgüter aus ganz Europa vorzunehmen. Einen wesentlichen Ausgangspunkt dafür bildete das ‚Offenbacher Archival Depot’. Die Sammelstelle für geraubte Bücher und Ritualgegenstände wurde im März 1946 in Offenbach eröffnet. Darin befanden sich „Millionen von Büchern, Manuskripten, Inkunabeln, Thorarollen, Ritualgegenständen und Dokumenten“ (S. 27) aus den bedeutendsten jüdischen Bibliotheken, Lehrhäusern und Synagogen, aber auch aus jüdischen Privatsammlungen der ehemals deutsch besetzen Gebiete.

Detailliert beschreibt Gallas die Gründung des Depots sowie die akribische Arbeit der Beteiligten bei der Rückgabe der Objekte. Differenziert legt sie auch die verschiedenen Auffassungen der Akteure –  etwa zur Zukunft und Ort des jüdischen Kollektivs  –, aber vor allem auch die politischen und rechtlichen Schwierigkeiten dar, die sich bei der Rückgabe darstellten. So waren sowohl die Eigentümer der Objekte als auch deren Erben oft nicht mehr zu identifizieren oder nicht mehr am Leben. Die jüdischen Gemeinden in den Ländern, aus denen die Gegenstände stammten, waren vollständig zerstört und existierten nicht mehr. Für das aus Österreich und Deutschland stammende Material, das nicht mehr an die Eigentümer zurückgeführt werden konnte, hätte dies bedeutet, dass es an die deutschen und österreichischen Nachkriegsstaaten hätte zurückgegeben werden müssen: „Die Täter wären somit Nutznießer ihrer Verbrechen geworden“ (S. 44). Ebenfalls Schwierigkeiten bereitete die Restitution von osteuropäischen Beständen sowie in die sowjetische Besatzungszone in Deutschland.

Für die Fragen der Neuordnung und des Wiederaufbaus jüdischen Lebens waren die Kulturgüter von entscheidender Bedeutung, so arbeitet Gallas heraus. Nach Auffassung des JCR sollten die Gegenstände dort hingehen, wo auch die Juden sich niederließen – also in großer Zahl in die USA und nach Israel. Dort bildeten sich nach den großen Flucht- und Emigrationswellen die Mittelpunkte jüdischen Lebens neu.

Die Rolle Israels war jedoch kompliziert. So waren etwa große Teile der Zionisten der Auffassung, dass Israel die Nachfolge des ermordeten europäischen Judentums antreten solle. Israel bestand jedoch als Staat noch nicht und hatte auch während des Holocaust nicht als solcher existiert. Zudem waren kaum Gegenstände aus Palästina Bestandteil des Raubguts. Dies machte die Verteilung von Objekten nach Israel rechtlich problematisch, auch wenn sich viele Akteure einig waren, dass Israel als neue Heimat für eine große Anzahl überlebender Juden ein zentraler Ort für die Rückerstattung sei.

Gallas setzt sich auch mit den unterschiedlichen Motiven und Tätigkeitsfeldern der vier bekanntesten Akteure der jüdischen Restitutionsinitiativen  –  Hannah Arendt, Salo W. Baron, Gershom Scholem sowie Lucy Dawidowicz  –  auseinander. Gemeinsam verband sie das Anliegen, durch die Rettung und Bewahrung der Kulturgüter, die Zukunft, Weiterexistenz und Sicherung der jüdischen Lebenswelt nach dem Holocaust zu gestalten. Da in der jüdischen Tradition dem Buch und der Schrift eine herausgehobene Funktion zukommt, erschienen gerade die geretteten Schriftstücke und Gegenstände als  Geschichts- und Erinnerungsträger, als Sicherung der Kontinuität der eigenen Geschichte. So waren die Objekte im Offenbacher Depot, dem „Leichenhaus der Bücher“ (S. 69), wie Gallas Lucy Dawidowicz zitiert, nicht nur Monumente der Erinnerung, sondern „fungierten als symbolische Grabsteine der spurlos ermordeten Eigentümer“ (S. 69). Im Wissen um den Bruch, den der Holocaust darstellte, waren sie darüber hinaus vor allem für Hanna Arendt dennoch Zeichen der Hoffnung auf ein Weiterleben der jüdischen Tradition “im Bewusstsein der immer gültigen Zerstörung“ (S. 249).

Elisabeth Gallas macht in ihrer sorgfältigen und lesenswerten Untersuchung anhand zahlreicher Quellen, darunter auch viele Abdrucke von Photographien, deutlich, wie bedeutsam die Rückgabe der jüdischen Kulturgüter an ihre früheren Eigentümer oder deren Nachkommen ist. Wie der eingangs erwähnte Fall ‚Gurlitt’ zeigt, ist das Thema keineswegs ausschließlich ein historisches  –  sondern bis heute sehr aktuell.