Der Umfang der österreichischen Geschichte
Ausgewählte Studien 1990-2010

Erneut als 'Austriazist' kann der darin profilgebende österreichische Historiograph Stourzh mit seiner auch in dieser Absicht ausgesuchten Sammlung von Studien gelten. ' Nicht durch vereinnehmende Abzirkelung, sondern mithilfe exemplarischer Umkreisung sucht er der Wahl seiner Übertitelung, dem 'Umfang', gerecht zu werden, eine 'Österreichkunde' vorführend. Er bewerkstelligt dies erstens mit Zurechtrückungen verbreitet eingeübter Ansichten, zweitens dem Aufweis von Singularitäten sowie Spezifitäten der Staats- und Kulturformationen Österreichs, und drittens der Präsentation von Verwandten in Forschung und politischem Geist.

Wenn für ihn mit J. Huizinga Geschichte die 'Rechenschaft über das Eigene' (S. 11) ist, so umschließt es bei ihm eine stattliche Zahl: 'Die Schicksale und die Sozialisation zu vieler Menschen in zu vielen Lebensbereichen ' ' ' sind von der Zugehörigkeit zum Institutionengefüge der Monarchia Austriaca geprägt worden, als dass man mit einer Trennung in Dynastiegeschichte einerseits und Landes- und Ländergeschichte andererseits das Auslangen finden könnte.' (S. 29) Schon um ihretwillen beklagt er etwa die stillschweigende Praxis, den ungarischen Reichsteil zu wenig in die Gesamtgeschichte miteinzubeziehen. Der 1. Republik mehr gerecht werden möchte er der ungenügend wahrgenommenen Bedrängtheit Österreichs, insbesondere zwischen 1936-38, das von maßgeblichen Staaten schnöde 'zum Versatzstück' (S. 206) wurde. Der 2. Republik gilt seine Entwicklung zum 'Neutralitätsgesetz' (1955); für ihn ist diese 'Neutralität' unter den Bedingungen eines freiwilligen (da us-diplomatisch auserbeten) Zwangs (von der Sowjetunion dringlich vorausgesetzt), somit auch außengesteuert, zustandegekommen.

Dieser Historiker diskutiert mit der Fachwissenschaft, besonders in seinem jüngsten Beitrag: 'The Ethnicizing of Politics and 'National Indifference' in Late Imperial Austria' (2010) ( einziger englischsprachiger Beitrag): Er bittet seine Leserschaft, die Folgen von staatsgrundgesetzlichen, der Autonomie gleichermaßen wie menschenrechtlich angelegten Umsetzungen mit ihren eigendynamischen Logiken zu bedenken, dass, etwa durch Bestimmungen im Schulwesen, die ethnische Ausdifferenzierung auch deshalb erfolgte, weil 'man zwar wählen konnte, jedoch nicht nicht' (vgl. S. 294) Mit einigen Konzepten der in Multikulturalität erfahrenen us-amerikanischen Soziologie und Historik nicht einverstanden, beharrt er auf der eminenten Funktion von Zwei- und Mehrsprachigkeit für die soziale Kohäsion in einem Nationalitätenstaat wie Altösterreich: '[Bilingualism] has an instrinsic relationship, however, to a multilingual empire with basic needs of communication and varieties in the social and political standing of different languages.' (S. 304) Es erscheint die fortschreitende Demokratisierung gewesen zu sein, die dieses Potential zur Bildung von ausreichender Zusammengehörigkeit hintertrieb, verkümmern ließ.

Die Einzigartigkeit und besondere Charakteristik der österreichischen Geschichte versucht Stourzh vorzugsweise an zwei Faktoren festzumachen: Zum Einen an dem seltenen Phänomen der Landesverfassungen Altösterreichs, die, ungewöhnlich genug, dem Reichsvertretungsgesetz gleichgestellt waren, den 'oft auch als 'staatfrei' bezeichnete[n]'(S. 54) autonomen Landesverwaltungen; zum anderen an der Institution des 'Reichsgerichts', für ihn mit der fulminant einzigartigen Auswirkung: 'Im Halbjahrhundert von 1869 bis 1918 war [es] der einzige Gerichtshof in Europa, der über Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte durch die staatlichen (und die autonomen) Behörden urteilte.' (S. 170)

Wofür der Autor sich stark macht, kann auch als dessen Schwäche ausgelegt werden: Etwa indem er die von einem Großteil der heimischen Bevölkerung als Schmach empfundene außen- wie innenpolitische Demontage Altösterreichs während des 1. Weltkriegs einkalkuliert, nicht jedoch jene von 1945, als global diskreditiert alles 'Deutsche' galt, zu denen dann doch die Bevölkerung nicht mehr gehören wollte, und die 'Reihen' mit einem 'Deutschland' ab nun möglichst 'undicht' zu schließen bereit war. Ein 'blinder Fleck' des Verfassers ist hier nicht zu unterstellen, wohl aber, und die familiären Wurzeln im altösterreichischen Böhmen prädestinieren ihn dazu, das Anliegen, 'Österreichs Geschichte' affektiv prononciert positiv zu 'umfangen' ' in Zuneigung. Gestützt auf seine verfassungs-, diplomatie- und politikgeschichtlichen Argumente, ist dieses sein 'Umfangen' beispielhaft.