Entre chien et loup
Briefe und Biographie, Band 2: 1808-1815

Endlich liefert Thelem hier den zweiten Band der Briefe des Grafen; man verschlingt sie gierig, wenn man die ersten gelesen hat und wenn man weiß, wie interessant dieser außergewöhnlich bemerkenswerte spätere Fürst schreiben kann.
Günter J. Vaupel legt wieder eine sorgfältig erarbeitete Ausgabe vor, mit Anmerkungen, einem Literaturverzeichnis (darunter so schöne Titel wie: Eine durch ein unerhörtes Zornfeuer Gottes ganz und gar zerstöhrte Stadt ...), einem langen Personenregister, das zeigt, dass dieser Gartenkünstler Kontakte zu tout le monde hatte. Biographische Notizen ordnen die Briefe ins Ganze dieses aufregenden Lebens ein. Vaupel hat  Archivforschungen, u.a. in Weimar und Berlin nicht gescheut und dabei biographische Einzelheiten und Briefe aufgespürt, die bisher in keiner Biographie oder anderen Pückler-Publikation zu finden sind. Insgesamt bieten beide Bände wohl das Detaillierteste, was es z.Zt. über 30 Jahre Pückler (1785-1815) gibt, zumal die Inhalte auch konzeptionell weit über eine Monographie oder Biographie hinausgehen und zahlreiche Kontexte erhalten, die kultur- und literaturwissenschaftlich, (militär-)historisch, landschaftsgestalterisch und z. B. editionswissenschaftlich bedeutend sind.
Der Band enthält wieder zahlreiche, bisher ungedruckte Briefe von und an Pückler, sowie erstmalige Übersetzungen aus dem Französischen, außerdem zahlreiche neue Forschungsergebnisse zu Pücklers Biographie. So findet man etwa einen Exkurs: Pückler und Goethe (S. 554ff.); er beschreibt und erhellt ein biographisches Detailproblem, das in der Pückler-Literatur bisher nicht näher betrachtet worden ist: Es ist die Frage, wann Pückler zum ersten Mal Goethe begegnet ist, und ob Goethe bereits in den Jahren 1810-1812 Pückler zur Landschaftsgärtnerei animierte.
Hinsichtlich biographischer Informationen ist Pücklers Leben im Zeitraum Juni 1810 bis 1815 bisher nur sehr lückenhaft bekannt gewesen. Oftmals werden diese Jahre in der Pückler-Literatur in nur wenigen beschreibenden Sätzen abgehandelt (vgl. etwa: Hermann Graf von Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen, Bd. 1, 2, Berlin 1987). Für diesen Zeitraum bietet der Band ab S. 559 nunmehr wesentliche Ergänzungen.
Die Kriegsjahre 1812-1814 sind im Zusammenhang mit biographischen Daten Pücklers bisher kaum dargelegt worden. Erwähnt wird immer wieder nur in kurzen Sätzen, dass Pückler an den Kämpfen in den Niederlanden teilgenommen hat. Auch hier bietet der Band zahlreiche neue Forschungsergebnisse, die der Herausgeber aus verschiedenen Archiven zusammengetragen hat (S. 583ff.).
Man findet bei Pückler den wirklichen Alltag: 'Teuerung in der Schweiz', Klagen überhaupt über das teure Reisen, die Preise. So ist verständlich, dass der ledige Pückler solche Beobachtungen macht: 'In Genua wäre etwas in Heiratschance anzufangen gewesen, wenn ich meinem Stande gemäß auftreten könnte; seit kurzem sind fünf äußerst reiche Partien von zum Teil sehr unbedeutenden Männern gemacht worden, weil es an épouseurs fehlt. Noch jetzt sind drei Mädchen da, die mit großem Vergnügen täglich auf Freier warten, und wovon die eine sehr hübsch sein soll' (S. 473).  'Noch eins: die reiche Partie in Sachsen, von der ich neulich meinem Vater schrieb, und deren Namen ich nicht wusste, ist das Fräulein Leibnitz in Friedersdorf, sechs oder sieben Meilen von Muskau. Sie ist das einzige Kind, und ihr Vater hat wenigstens 300.000 im Vermögen. Das Mädchen ist jung, ziemlich hübsch, ländlich erzogen, und soll gut sein' (S. 487). Dabei immer auch Ernstes und Aktuellstes: 'Einen großen Teil seiner besten Gemälde hat auch Genua durch die Franzosen eingebüßt (S. 472, Beutekunst unter Napoleon). 'Auf dem Meer sind wir von einem Korsaren gejagt worden [...]'. Und, was nicht vergessen werden darf: 'Würdigen Sie die italienischen Frauen, denen gelehrt wird, ein besseres Leben als alle anderen zu genießen. Sobald sie bemerken, dass ein Mann ein Liebesabenteuer von ihnen wünscht, werden sie ihm am zweiten Tag ja oder nein antworten' (S. 544). So ist das in katholischen Gebieten: '[Es] dient auch hier das Badehaus zugleich noch einem anderen Behufe, der der Gesundheit weniger zuträglich ist ' man versicherte mich überhaupt, es herrsche viel licence der Sitten in Luzern (S. 317; Luzern galt als Vorort der katholischen Schweiz). Dagegen im reformierten Zürich: 'Wir verlängerten unseren Spaziergang beim Rückweg bis auf die Promenade an der Limnath, wo heute, Sonntags, der größte Teil der schönen Welt aus Zürich versammelt war. Es fiel mir auf, Weiber und Männer völlig abgesondert zu sehen; die Männer grüßten zwar im Vorbeigehen die bekannten Damen sehr ehrerbietig, redeten sie aber niemals an, ganz alte ausgenommen' (S. 307).
Jeder wird diese Briefe anders lesen und er hat heute, postmodern, nach der schon alten Rezeptionstheorie das Recht dazu. Sie sind nicht nur ein Itinerarium für z.B. die Schweiz, Oberitalien, Süddeutschland, Flandern, London. Was sie jedenfalls auch sind, und das qualifiziert sie dazu, auf dem Bücherbord jedes literarisch Interessierten zu stehen: ein Spiegel der Welt um 1800. Man findet ohne Ende die spannendsten, perspektivenreichsten Bemerkungen, immer auch Bevölkerungssoziologisches: 'Es steht diesen Frauen gut, dass sie nicht ignorieren, was Frauen gefällt, nämlich Oberhaupt im Hause zu sein. So werden die Ehemänner dort nicht so viel zählen' (S. 551). Hermann Pückler notiert hier den uralten Vertrag zwischen Mann und Frau, den wir feministisch gekündigt haben.
Wer sich über die ersten 30 Lebensjahre Pücklers informieren möchte, dem werden diese beiden Bände zum Lesevergnügen und zum bisher ausführlichsten Nachschlagewerk dienen können. Geplant sind übrigens weitere Bände zu Pückler, aber auch Urkunden und Regesten zur Standesherrschaft Muskau.