Die Todesmärsche von Buchenwald
Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung

'Am Abend des ersten Tages auf diesem Transport, als er längst wußte ' weit schaffe ich es nicht mehr ', verloren seine Augen jede Farbe. Sie wurden weiß und blickten aus erschreckender Ferne. Ich wußte nun, was geschehen würde.' Fred Wanders Erzählung 'Der siebente Brunnen' zählt zu den herausragenden Darstellungen erlittener nationalsozialistischer Gewalt. Seiner literarischen Umsetzung der Buchenwald-Erfahrungen aus dem Frühjahr 1945 steht mit Katrin Greisers Dissertation nun eine Studie gegenüber, die sich der Evakuierung des größten Lagerkomplexes im Reichsgebiet und den so genannten Todesmärschen in wissenschaftlich fundierter Weise annimmt und eine Forschungslücke schließt.
Die Untersuchung basiert zwangsläufig vor allem auf Berichten Überlebender und folgt relevanten Themen der Historiographie zum Nationalsozialismus. Gefragt wird nach den Tätermotiven (Browning, Herbert), der Rolle des Antisemitismus (Goldhagen) sowie der Wahrnehmung und Aufarbeitung der Geschehnisse (Frei). Greiser geht im Sinne der Fortsetzungsthese Bauers davon aus, dass die Räumung des Stamm- sowie der Außenlager sich nicht aus dem Chaos der letzten Kriegsphase heraus ereignete, sondern als 'dezentralisierte Massenliquidation der Häftlinge auf den Todesmärschen' (S. 46) beabsichtigt war. Der Aufbau ihrer Arbeit ist dann an Hilbergs Monographie 'Täter, Opfer, Zuschauer' orientiert; letztere heißen bei Greiser 'Zeugen' und umfassen neben der Zivilbevölkerung primär die amerikanischen Befreier, deren Ermittlungsakten ebenfalls als Quelle dienen.
Im Rahmen des ersten Kapitels arbeitet Greiser die Abfolge der Ereignisse ab März 1945 sowie die Kommunikation zwischen Himmler und der Lagerkommandantur heraus. Sie dokumentiert zum einen die (ungeachtet zunehmend hektischer Vertuschungsmotive, unklarer Befehlslage und willkürlicher Gewalt der Wachmannschaften) beibehaltene äußere Ordnung, etwa in Gestalt regelmäßiger Appelle oder sorgfältig geführter Transportlisten. Signifikant ist in dem Zusammenhang ihre Beschreibung der Märsche als 'Konzentrationslager auf Wanderschaft' (S. 137). Zum anderen nimmt sie eine Differenzierung der Täter vor und legt individuelle Verhaltensweisen von Angehörigen der SS, Wehrmacht, HJ und des Volkssturms offen.
In ähnlicher Weise (und somit im Sinne des oben zitierten Wanders) gibt die Kulturwissenschaftlerin im zweiten Abschnitt den Opfern ein Gesicht. Todessehnsucht und Aufbegehren, Solidarität und 'brutale[r] Egoismus' (S. 147) werden ohne nachträgliche Wertung nebeneinander gestellt, die kommunistisch organisierten Widerstandsbemühungen in ihren Grenzen aufgezeigt und gewürdigt. Allein die Vielzahl der von Greiser berücksichtigten Erinnerungen spricht für sich und weicht das Bild einer homogenen Masse grundlegend auf. Die Marsch-Szenarien unterscheiden sich dabei oft nur in der Perspektive von denen des ersten Kapitels, mitunter kommt es zu Redundanzen in der Darstellung (z. B. S. 105/190).
Die Frage nach dem Verhalten der Zivilbevölkerung wird im dritten Abschnitt aufgegriffen, dessen besonderer Wert im kritischen Aufarbeiten des 'War Crimes Program' der USA liegt. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die unter den Deutschen dominierende 'Distanz, die der Beobachter gegenüber den Opfern einnahm' (S. 261), sich hinderlich auf die Aufklärungsarbeit und Rechtsprechung der amerikanischen Militärregierung auswirkte. Diese Haltung reichte von mangelnder Kooperation bei den Exhumierungen über Versuche, milde Urteile für Angeklagte zu erwirken, bis zu Verunsicherungen der Zeugen durch die Verteidigung. Letztlich konnte im Buchenwald-Prozess von 1947 nur ein 'Bruchteil der begangenen Greueltaten' (S. 447) erfasst werden.
Greiser spricht zum Ende ihrer durch zahlreiche Fotos veranschaulichten (in grammatischer Hinsicht z. T. nachlässig lektorierten) Studie über die Todesmärsche treffend von einem Geflecht aus Tätern und Zuschauern, das den verfolgten Opfern so gut wie keinen Handlungsspielraum gelassen habe. Goldhagens These vom Antisemitismus als hierfür zentralem Antriebsmoment wird überzeugend widerlegt, darüber hinaus stellt die Verfasserin der deutschen Bevölkerung jedoch ein ernüchterndes Zeugnis aus, was deren damalige Ignoranz, Passivität, Feigheit und Verrohung betrifft.