Begriffsgeschichten
Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache

Noch immer läßt sich mit Kants Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung einiges verdeutlichen. Nicht umsonst meinen die Marburger Neukantianer: es ist nötig, zu Kant zurückzukehren.
Geschichte: das ist das Ding an sich, das sind die real events, was wirklich geschehen ist. Historie, das ist die Erzählung davon, das sind die Diltheyschen 'Objektivationen', die Monumente, Dokumente, die wir haben, sprachlich oder nichtsprachlich. Wir haben nicht die Geschichte als Ding an sich, wir haben nur die Erscheinungen, perspektivische Abschattungen (Husserl), wer will kann auch sagen 'Erzählungen', Konstrukte. Geschichte ist die Qualle, die sich nicht greifen läßt, die immer wieder neu entgleitet, Historie ist das Netz, das sie zu fangen sucht.
Reinhart Koselleck (1923-2006), seit seiner Dissertation über die Krise der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert ein Stern am historischen Himmel, gehört zu den Autoren, die fern allem Zweifel an ihrer innovativen Wissenschaftlichkeit, auch lesbar, verständlich schreiben, so schreiben, daß Husserls 'Verlust der Lebensbedeutsamkeit' nicht zu beklagen ist.
Der Band versammelt Aufsätze des Meisters aus den Jahren 1980 bis 2005; sie verdienen, gebündelt zu werden. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lohnt sich:
Teil I: Zu Theorie und Methode der Begriffsgeschichte: Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte ' Sprachwandel und Ereignisgeschichte ' Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte ' Die Verzeitlichung der Begriffe ' Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels ' Stichwort: Begriffsgeschichte.
Teil II: Begriffe und ihre Geschichten: Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung ' Exkurs: Geist und Bildung, zwei Begriffe kultureller Innovation zur Zeit Mozarts ' 'Fortschritt' und 'Niedergang', Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe ' Grenzverschiebungen der Emanzipation. Eine begriffsgeschichtliche Skizze ' Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von 'Krise' ' Patriotismus. Gründe und Grenzen eines Neuzeitlichen Begriffs ' Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Semantik eines einst emphatischen Worts ' Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie ' Feindbegriffe.
Teil III: Zur Semantik und Pragmatik der Aufklärungssprache: Sprachwandel und sozialer Wandel im ausgehenden Ancien régime ' Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache ' Aufklärung und die Grenzen ihrer Toleranz.
Teil IV: Zur Semantik der politischen und der sozialen Verfassungsgeschichte: Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungs-Geschichtsschreibung. ' Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der einmalig geprägten aristotelischen Bürger-Begriffe. ' Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich
Teil V: Von der Begriffsgeschichte zur begriffenen Geschichte: Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848 ' Diesseits des Nationalstaates. Föderale Strukturen der deutschen Geschichte ' Bürger und Revolution 1848/49 ' Allgemeine und Sonderinteressen der Bürger in der umweltpolitischen Auseinandersetzung.
Sehen wir in den Text. 'Ein aufregendes Beispiel für den Fall, daß Begriffe sich gleichbleiben, die Wirklichkeit sich aber rasant geändert hat, haben wir erst jüngst erfahren. Für den sowjetischen Marxismus war der höchstentwickelte Kapitalismus die letzte Epoche vor dem endgültigen revolutionären Umsturz, der der ganzen Menschheit Freiheit und Selbstbestimmung bescheren werde. Dann schoben sich ' bis zum Ersten Weltkrieg unvorhergesehen ' Faschismus und Nationalsozialismus dazwischen. Begrifflich konsequent, aber sachlich unzutreffend, wurden beide nunmehr als höchste Stufe des Kapitalismus umdefiniert, um die revolutionären Erlösungslehren nicht aufgeben zu müssen. Nach 1945 schließlich wurden die USA und vor allem die Bundesrepublik Deutschland zu den monopolkapitalistischen, aggressiven, militaristischen, also faschistischen Ländern schlechthin erklärt, um an den alten Deutungskategorien, an den Begriffen einer utopischen Geschichtsphilosophie festhalten zu können. Schließlich drängte sich jedoch die schief gedeutete Wirklichkeit so störend auf, dass das ganze überkommene und dogmatisierte Begriffsgebäude über Nacht zusammenbrach.' (S. 63)
Überall schreibt Koselleck in dieser Präzision und Verständlichkeit, er nennt das Wesentliche mit verständlicher Bodenhaftung, nicht verblasen, nicht in eine luftleere Abstraktion gehoben. Andere Beispiele sind etwa die Ehe, die ein begriffsgeschichtlicher Blick zunächst in ihrer theologischen, alteuropäischen Gestalt sieht ('ein von Gott eingesetztes unauflösliches Institut, dessen Hauptzweck die Erhaltung und Vermehrung des Menschengeschlechts' ist). Die Moderne wird sie geändert konstruieren, 'die Freiheit der Ehepartner als Individuen' respektieren und die 'Selbstbestimmung beider Partner' zentrieren. Damit ist die Basis gelegt für eine 'anthropologische Selbstbegründung': sie ereignet sich in der 'Liebesehe', anscheinend eine 'romantische Begriffsbildung', in Wirklichkeit aber viel älter, eben anthropologisch fundamental, schon im Hohen Lied des Alten Testaments. Sie setzt die Liebe als den geltenden Gott, der auch Trennungen erlaubt (die Goethe noch in den 'Wahlverwandtschaften' tragisch enden ließ). Unvergleichlich klassisch hat Clemens Brentano in 'Ponce de Leon' die Sachlage poetisiert; der Held Ponce gesteht Valeria, die er gerade verläßt: 'Hier, wo neue Liebe mich gefangen, Der ich nimmer, nimmermehr entgehe, Denk ich gerne deiner, die vergangen, Süße Liebe voller Lust und Wehe!' Valeria, obgleich verlassen, antwortet mutig:. 'Zürnet seiner nicht, ihr roten Lippen, Wollet Trost aus andern Küssen saugen, Denn er scheiterte an fremden Klippen, Wendet nimmer heimwärts seine Augen.' ' Ponce, dieser Machomann: ' Wenn das Leben nicht hinaus mich triebe, Nicht nach Ferne Sehnsucht mich verzehrte, Blieb ich dir, du Heimat meiner Liebe, Die mich scherzen, tändeln, küssen lehrte.' 'Er küßt sie' ' sagt die Regieanweisung, man darf ergänzen: zum letzten Mal. Valeria: ' So sei dann feierlich entbunden; Wie dieses Kusses Feuer leicht verglühet, So schließen sich der frühen Liebe Wunden Und neue, schönre Liebe bald erblühet. ' Ponce. Herzlichen Dank! Mädchen, es ist mir beinahe besser ums Herz; willst du mir nun treu dienen?' Dies Muster hatte Goethe schon vorgestrickt in einem (selbstunterdrückten) Venetianischem Epigramm: 'Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen, Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch.'
Und dabei immer Gültiges: 'Zusammengefaßt: früher/später, innen/außen, oben/unten sind drei Oppositionsbestimmungen, ohne die keine Geschichte zustande kommt.' (S. 35) Man lese nach, was er zur 'Sprachlosigkeit der Deutschen' erinnert, 'als sie 1945 mit ihrer Katastrophe konfrontiert wurden, in die sie so unendlich viele Menschen und Völker hineingezogen hatten'. (S. 36) Man lese nach, was er zum berühmten Melier-Dialog des Thukydides anmerkt, der zum Pflichtprogramm gehört bei der Prüfung zur europäischen Staatsbürgerschaft. Man lese nach, was er zu Revolution sagt (S. 64), zu Progression (S. 78).
Oder zu Sprechhandlungen als Umwidmungen: Ludwig XVI. wurde von den Revolutionären nicht mehr als Mensch akzeptiert; er selbst wollte nur noch citoyen sein. Er wurde aber 'als Monarch behandelt, u.d.h. als Feind', den man umbringen darf (S. 297). Das Muster dieser Metamorphose liefert ' wie so oft für abendländische Topoi ' das Alte Testament: Moses und seine Mannschaften erleben, erklären die vorgefundene Bevölkerung des Heiligen Landes als (gottverhaßte) Sünder, als Feinde Gottes, die zu beseitigen eine Vollstreckung göttlichen Willens bedeutet. Als Nebeneffekt hat man dann ein für Besiedlung freies Land.
Und: die nach Pisa so unverzichtbare Reflexion über Bildung (Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, S. 105ff.). Hier wird man dann auch an so selten und so ungern gehörte Sätze erinnert: 'Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung.' (Hegel) Und: 'Zucht im Sinn von Selbstzucht gehört dazu.' 'Der Mensch muss sich im Gegensatz zum Tier zu dem machen, wass er sein soll.'