Goethe und die Bibel

'Bibelfest wie ich war' schreibt Goethe in 'Dichtung und Wahrheit'. Weißgott, er kannte dieses Buch aller Bücher begabt wie er war auswendig. Und er konnte so fromm dichten; ins 'geistliche Schatzkästlein der Mutter' schreibt er: 'Das ist mein Leib, nehmt hin und esset. / Das ist mein Blut, nehmt hin und trinkt. / Auf daß ihr meiner nicht vergesset, / Auf daß nicht euer Glaube sinkt. / Bei diesem Wein, bei diesem Brot /Erinnert euch an meinen Tod. / Zum Zeichen der Hochachtung und Ehrfurcht setzte dieses seiner geliebtesten Mutter J. W. Goethe. Ffurt d. 30 Sept. 1765.' Indes gestand sein Faust, daß er die (frohe) Botschaft zwar höre, daß ihm aber der Glaube fehle. 'Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt.' Der Frankfurter Meisterdichter hatte immer, temporär wechselnd, unterschiedliche Literaturgötzen. Homer, Shakespeare, Dante nicht, aber Spinoza. Der englische Dramatiker galt ihm als der Einzige, dem er sich weihte: 'William! Stern der schönsten Höhe, Euch verdank' ich was ich bin'.
Die Bibel gehört in diese Reihe, als ganz junger Goethe dichtete er religiös, er macht sich etwa poetische Gedanken über Höllenfahrt Jesu Christi. Vieles hat er, wie er in einem Brief aus Leipzig an die Schwester verrät, verbrannt. Zu stark mußte er die Differenz spüren zwischen der frivolen, erotischen Anakreontik, die er in diesem Klein Paris kennengelernt hatte und der religiösen Emphase im Stil und in der Nachfolge Klopstocks. Goethe hat sich früh vom enthusiastischen Dichter des 'Messias' gelöst und sich auch vom frömmelnden Lavater distanziert. Goethe hat die rationale Bibelkritik der Aufklärung weithin affirmativ rezipiert (vgl. G. Sauder, Aufklärerische Bibelkritik und Bibelrezeption in Goethes Werk, in: Goethe-Jahrbuch 118, 2001, S. 108-126). Ein Brief an Lavater ( 9. August 1782) hält die evolutionär, durch bildende Entwicklung sich entfaltende Position fest: 'Du hältst das Evangelium wie es steht für die göttlichste Wahrheit, mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebiert, und daß ein Todter aufersteht; vielmehr halte ich dieses für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur. Du findest nichts schöner als das Evangelium, ich finde tausend geschriebene Blätter alter und neuer von Gott begnadigter Menschen eben so schön, und der Menschheit nützlich und unentbehrlich. Und so weiter!'
Kritische Distanz zum Heiligen Text hat Goethe nicht gehindert fast seine gesamte Anthropologie der Bibel zu entnehmen, die doch dem Weltbild seines Supermannes Faust zu konträr entgegengesetzt ist. Es ist die Anthropologie des Kohelet, die von tiefem Pessimismus bestimmt, die Gebrechlichkeit des Menschen radikal denkt und ins mentale Kalkül, ins Spiel der Ideen, konstituierend aufnimmt. In einem Selbstkommentar zu seinem Monodrama 'Proserpina' hat er zentrale Punkte notiert: 'Man wollte daran erinnern, daß der Orcus der Alten dadurch bezeichnet war, daß die Abgeschiedenen sich vergebens abmühten, und es daher ganz schicklich sein möchte, die Schatten der Heroen, Herrscher und Völker an dem Verfall ihrer größten Werke das Vergebliche menschlicher Bemühungen erblicken zu lassen, damit sie dasjenige immerfort wieder aufzubauen versuchten, was ihnen jedesmal unter den Händen zusammenfällt.' Aber auch der strebende, rackernde und zackernde Faust wird ihr, wenn auch widerwillig, Tribut zollen.
Der Band versammelt eine Reihe interessantester Beiträge, die dem Leser hohen Gewinn bringen; sie verdienen hier genannt zu werden: Thomas Tillmann: Vom Sprechen zum Lallen. Glossolalie und Prophetie in Goethes: Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen. Christian Sinn: Belsazars Geburtstag: Annäherung an den Schriftbegriff des jungen Goethe. Hans-Jürgen Schrader: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes Werther. Anne Bohnenkamp: Goethe und das Hohe Lied. Wolf-Daniel Hartwich: Nichtchristliche 'Offenbarung': Goethe, Lavater und die biblische Apokalypse. Magrit Wyder: 'Die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit'. Biblische Bezüge in Goethes Gedanken zur Erdgeschichte. Clark S. Muenzer: Das Buch Hiob und Goethes Naturbegriff. Edith Anna Kunz: 'Unbedingte Ruh' ' 'große Taten'. Zu paradiesischer Passivität und irdischer Tätigkeit bei Goethe. Frank Zipfel: 'Ich hätte Euch einen ganz anderen Moses machen wollen' ' Überlegungen zu Goethes Moses-Bild in Israel in der Wüste. Ulrike Landfester: Buch der Bücher, Text der Texturen. Goethes bibelphilologischer Kulturbegriff. Jane K. Brown: Im Anfang war das Bild: Wilhelm Meister und die Bibel. Markus Zenker: Bergpredigt, 'Weltfrömmigkeit' und natürliche Theodizee in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Hans Rudolf Vaget: Katzengold. Kunst und Religion in Wilhelm Meisters Wanderjahren. Cyrus Hamlin: Biblische Liturgie und Ikonographie in Goethes Faust. Johannes Anderegg: Mephisto und die Bibel.
Die Deutsche Bibelgesellschaft ist sehr zu loben, daß sie diesen wichtigen Band, der jedem Leser Unterhaltung und Belehrung vermittelt, in ihr Verlagsprogramm aufgenommen hat. Daß dies in bewährter Rechtschreibung geschieht, erhöht den Lesegenuß.