Ich nicht
Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend

'Erinnerungen beginnt man meist zu schreiben', heißt es im Vorwort dieses hoch gelobten und vielfach besprochenen Buches, 'wenn einem aufgeht, dass der größte Teil des Lebens gelebt und das Vorgehabte mehr oder minder gut zu Ende gebracht ist.' Kurz nach Erscheinen des Bandes verstarb der Verfasser, nach einem Werdegang, der ihn zu einem der bedeutendsten Publizisten und Historiker der Nachkriegszeit machte. Viele Positionen hatte er inne gehabt (u.a. Chefredakteur des Norddeutschen Rundfunks und zwanzig Jahre Mitherausgeber der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung'); aber die vorliegende Autobiographie beschäftigt sich 'nur' mit der Kindheit und Jugend, abgesehen von wenigen Vorgriffen im letzten Kapitel. Gerade diese letzten Seiten machen noch einmal, resümierend, eindrücklich und nachdrücklich, deutlich, warum dies so ist, warum der Verfasser zudem das Buch seinen verstorbenen Eltern widmete: Sie haben sein Leben zutiefst geprägt, vor allem der Vater, der von Anfang an dem Hitler-Regime sich widersetzte und dafür ein entbehrungsreiches Leben in Kauf nahm. 'Ich habe mich oft gefragt, wer von den vielen Heldenrhetoren der Gegenwart, die sich auf den Bühnen der Gedenkveranstaltungen tummeln, wohl wie er entschieden hätte. Als Ausgleich hatte mein Vater lediglich seine rigorosen Grundsätze und das Bewusstsein, vor deren Richtstuhl zu bestehen.' Die Sorge für die Familie (fünf Kinder, darunter zwei Brüder) brachte die Mutter oft an den Rand der Verzweiflung. 'Die Familie stand für sie über den Grundsätzen; die jahrelang unmerklich schwelende, wohl nur einmal offen zum Ausbruch gelangte Meinungsverschiedenheit zeugt davon. Sie hatte nichts als die Last, der Spültöpfe, Waschbretter und Kachelöfen. Und dazu die Hoffnung, jeden von uns lebend und zugleich 'mit Anstand' durch die Zeit zu bringen. ... Nicht, dass ich mich beklage. Aber es war eine schiefe Ordnung. Ich glaube, dass ich für diese Art von Leben nicht gemacht war. Aber wer ist das schon. Wir haben ziemlich viel bezahlt.'
Man erschrecke, meint der Autor, wie vieles ins Dunkel gesunken oder als tote Zeitmasse im Vergangenen verschwunden sei. Aber Fest hat in seinem Gedächtnis und in seinen Notizen aus seinem ereignisreichen Leben so viel bewahrt, daß er geradezu minutiös, gelegentlich sich zu sehr in familiären Einzelheiten verlierend, sein Leben zu rekonstruieren vermag: 'Wie alles zusammenkam', d.h. sich die bürgerliche und großbürgerliche Familie herausbildete; wie diese Welt dann im 'Reich der niederen Dämonen' gefährdet war; wie die anderen fast alle 'mitmachten'; der Vater jedoch: 'Ich nicht!' Wie schwere Abschiede und 'fremde' Welten (Internat und Militär) auf den geistig regen und eigenwilligen Heranwachsenden zukamen. Das, was Memoiren nach lexikalischer Definition darstellen sollen ' 'Denkwürdigkeiten, in denen neben der Mitteilung des persönlichen Entwicklungsganges ein besonderes Gewicht auf die Darstellung der zeitgeschichtlichen Ereignisse gelegt wird' ', ist in diesem Buch auf hervorragende Weise gelungen. Aus der Lebensperspektive einer bürgerlichen Familie der inneren Emigration erlebt man die dunklen Jahre des Dritten Reiches hautnah ' eine Phase der deutschen Geschichte freilich, in der die Masse des Volkes, wahnhaft verblendet, ein goldenes tausendjähriges Zeitalter angebrochen sah, ein deutsches Reich 'der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit. Amen' (Adolf Hitler am 10.2.1933).
Der erschütterndste Teil des Buches handelt davon, wie dieses auf furchtbarem Unrecht und abgründigen Verbrechen aufgebaute Reich zerbrach ' vom Soldatenleben und Sterben, von der geglückten Flucht aus der Kriegsgefangenschaft und vom langen Weg nach Hause, wo er dann den 'anderen' Vater, eine von der russischen Gefangenschaft körperlich mitgenommene, in ihrem geistreichen Wesen verengte Persönlichkeit, wieder antraf.
Es gibt viele Schilderungen des furchtbaren Kriegsgeschehens ' von Zeitzeugen, die ihm zu Opfer fielen und die überlebten, lapidar-dokumentarisch oder auch dichterisch-verdichtet. Die Darstellungsweise dieses 'geborenen Beobachters' liegt dazwischen: sie ist durch analytische Exaktheit und durch zu Herzen gehende Empathie geprägt.
Was ist Wahrheit?, habe er wissen wollen, schreibt der Verfasser in einer Nachbemerkung, und sei am Ende ein ums andere Mal auf eine Einsicht Sigmund Freuds gestoßen: Die ungetrübte biographische Wahrheit sei bei allem Abmühen 'nicht zu haben'. 'Keine andere Überlegung dachte ich, sollte den Anfang und das Ende von 'Erinnerungen' bilden.' Dem möchte ich bei diesem Buch widersprechen: Nicht alles mag richtig erinnert und damit richtig berichtet sein, das Buch berührt jedoch ob seiner überzeugenden Wahrheit.