Jesus

Der Autor Klaus Berger gehört zu den theologischen hardlinern - ein Wort, das er selbst von Johannes dem Täufer gebraucht: d.h. er hat, mit einem hermeneutischen Brocken formuliert, ein Vorurteil: das ihm der Glaube liefert. Er glaubt, so einfach ist das. Was immer das inhaltlich konkret bedeuten könnte: glauben, Glaube - es gibt eine Stoßrichtung, eine Kampfansage. An die Konsequenzen aus der Aufklärung, liberale Positionen der Theologie werden revidiert. Der 'Wirklichkeitsgehalt der Evangelien' ist größer als so mancher moderne Religionslehrer meint. Das führt zu fett gedruckten Merksätzen, die den ruhigen Leser zu einem Augenblinzeln veranlassen: 'Bis zum Erweis des Gegenteils sind die neutestamentlichen Berichte (im Sinne der Historiker) als historisch wahr anzunehmen' (S. 51). Der Versuch, Fakten zu kreieren, führt dabei immer wieder zu närrischen Sätzen; so wenn es um die conceptio immaculata geht: Das 'zugrunde liegende historische Ereignis muß man wohl ein mythisch-ekstatisches Widerfahrnis nennen. Das heißt zumindest: Maria hat eine Vision des Engels Gottes, deren Macht so groß ist, dass sie daraufhin schwanger ist' (S. 55). So gelingen auch unüberbietbare Predigt-Passus: 'Gott hat es nicht verschmäht, in diesem palästinischen Mädchen als seinem Tempel zu wohnen' (S. 55).
Bergers Angriff geht dabei gegen die kritische Reflexion der Aufklärung: 'die kantianische Vernunftkritik' ist der Teufel. Das Wunder, das sonst auch in der Poesie - jedenfalls der Aufklärung als das Wunderbare - seine Rolle spielt, ist als wirklich geschehenes Ereignis unverzichtbar. Bergers mystische Theologie hält sich offen für 'reale Einbrüche des Göttlich-Anderen in die Normalität der Welt' (S. 56).
Der Marburger Theologe Bultmann hatte wohl noch gesagt. 'Ich kann nicht gleichzeitig einen elektrischen Schalter benutzen und an die Himmelfahrt Jesu glauben.' Wohl, das ist vor-postmodern. Heute gilt: Anything goes, jedenfalls 'ne ganze Menge geht. Und solche Angelegenheiten wie eine Himmelfahrt (von Ganymedes, von Mohammad) unterliegen gar nicht der Rechtssprechung der Wissenschaften. Das war ja gerade die große Leistung Kants, des Alleszermalmers aller Metaphysik: daß er das Wissen begrenzte, um dem Glauben Platz zu machen. Wer glauben will, darf glauben: das, was er will. Tatsächlich gilt der Satz: 'Je weniger Historie, umso mehr glauben.' Indes Klaus Berger als Rückwärtsfahrer meint, 'dass in der Erforschung des Neuen Testaments schon seit den sechziger Jahren das Historische wieder wichtiger geworden ist' (S. 44). Hier sollte die innere Stimme, die zu haben immer gut ist, wirken: wehe, wer sich in seinem Glauben von der sog. historischen Wissenschaft beeinflussen läßt. Sie ist und bleibt empirisch und meint, daß alle Schwäne weiß seien: bis auf einmal in Australien schwarze auftauchen (wie es bekanntlich wirklich gewesen ist). Wir müssen mit einer Departmentalisierung vorab leben. Das eine ist das Wissen, das andere ist der Glauben. Ein sehr schönes Diskursfeld wären hier die sog. ganz neuen Erkenntnisse biblischer Archäologie. Wo wieder einmal nachgewiesen wird, daß der Palast Salomos nur ein Viehstall war. Warte, warte nur ein Weilchen ... oder denken Sie an des Philosophen Odo Marquard Kirmes-Karussell: der weiße Elefant kommt bald wieder.
Gar nicht gut ergeht es, wie klar ist, Bultmann, der ein wichtiges Jesus-Buch geschrieben hat, und mit ihm der gesamten kritisch-liberalen Theologie des letzten Jahrhunderts: Bultmann wird, nach einem alten Kalauer, zum Buhmann, der als Vogelscheuche da steht. Freigegeben zur Bewerfung mit Schlamm. Theologische Positionen, wie sie etwa Dietrich Bonhoeffer vertrat,  dürfen erst gar nicht erwähnt werden. Bonhoeffer rang - jenseits der liberalen Theologien - um eine nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe angesichts der mündig gewordenen Welt. Bonhoeffer will Begriffe wie Buße, Glaube, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung weltlich, im alttestamentlichen Sinn und im Sinn von Joh. 1,14 uminterpretieren. Er will sie religionslos verstehen: von der Moderne her; sie ist für ihn rückhaltlos anzuerkennen. In seiner Ethik betont er, daß wir nicht hinter Lessing und Lichtenberg, hinter die Position der Aufklärung zurückkönnen. Den Kern des Problems hat man, wenn man dies erkennt: Berger ist Vertreter der dogmatischen Denkform (wie sie Erich Rothacker beschrieben hat). Seine Sicht der Sache ist es. Alles andere, was plausibel, was möglich, was menschlich ist: anathema sit! So kommt ein vorgeblich postmoderner Schafspelz, für den eine liberale Toleranz zu gelten hätte, für die viele Positionen sich wechselseitig respektierend nebeneinander stehen, als alteuropäische Besserwisserei neu ans Licht (oder besser: in die Dunkelheit).
Den heute Gläubigen darf man ganz altklug den Rat geben, doch einmal zu erinnern, was die alte antike Skepsis, cool und ruhig, mit epochē meinte, mit Urteilsenthaltung. Worüber man nicht reden kann, davon sollte man schweigen. Erleuchtung (Buddha), Offenbarung (Moses), persönlich erfahrene Evidenz können für sich und für mich gelten; das Button aber: einzig und für alle, wird nicht mehr verliehen. Da Zeiten, 'da alle sich der einen Mitte neigten', sind ein für alle mal passé (vgl. G. Benn: 'Ach, als sich alle einer Mitte neigten/und auch die Denker nur den Gott gedacht,/sie sich dem Hirten und dem Lamm verzweigten,/wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,/und alle rannen aus der einen Wunde,/brachen das Brot, das jeglicher genoß/o ferne zwingende erfüllte Stunde,/die einst auch das verlorne Ich umschloß').  Und so steht jede Religion heute auf dem Weltmarkt der Weltanschauungen; sie darf werben wie für jede Ware und Dienstleistung geworben wird. Daß in unseres Vaters Haus viele Wohnungen sind, mag unser Autor Klaus Berger indes nicht akzeptieren.
Die Rücknahme liberaler Positionen zeigt sich auch in so praktischen Dingen wie der Einschätzung der Ohrenbeichte. Berger plädiert für sie (heimlich an Arbeitsfelder für Theologiestudierende denkend: denn bevor man zum Psychiater geht, ist oftmals eine Beichte, die alle Schuld von einem nimmt, viel wirkungsvolle); er bedauert die reformatorische Rücknahme und weiß natürlich, daß auch die Lutheraner bis ins 18. Jahrhundert hinein gebeichtet haben. Aber die bösen rationalen Aufklärer haben das lächerlich gemacht und abgeschafft. Wirkliche Sünder und Schufte. Durchgängig ist eine Abwertung des Alten Testaments (verständlich bei einem Neutestamentler): aus Sklaven sind Kinder Gottes geworden. Die 'Theophanie am Sinai wird noch überboten' (S.74). Berger hält an der harten kairologischen Christologie fest, die historisch ihre Judenfeindschaft nie ganz verleugnen konnte.
Auch bei geputzter Brille kann man nicht überlesen, was hier steht: 'Es ist nicht möglich, Aussagen über Gewaltgebrauch aus den Erzählungen über Jesus oder aus seinen Worten zu tilgen. Gewalt meint: Einwirken auf den anderen nicht allein durch Worte, sondern durch physische Bedrängnis. Man sollte sich hüten, in die Bibel eine pazifistische Grundhaltung hineinzulesen, bzw. von ihr prinzipiellen Gewaltverzicht zu erwarten. Die Bibel selbst macht aus Gewaltverzicht keine Ideologie.' Diese theologische Position ist - wie Philippus, der Vater Alexanders des Großen, der durchs Schlüsselloch schaute, als der Göttervater seine Gattin besuchte und deshalb von Zeusens Spucke einäugig blind wurde - diese theologische Position ist einseitig; sie mißachtet zumindest die übliche, bekannte dialektische Gemengelage der biblischen Texte. Das heilige Corpus sagt Hü! und Hott! Und selbstredend gibt es eine Reihe von Stellen, die Jesus als friedlich und Gewaltgebrauch ablehnend erfinden.
Eine der tiefsten theologischen Meinungen Bergers findet man in seiner These vom 'umfassenden Geheimnis', von der 'Auserwählung, die auch am Gottesvolk der Juden abzulesen ist': dem 'Bestimmtsein zum Leiden'. Jesu Tod am Kreuz ist die wirkliche, historische Spitze dieses Motivs. Tatsächlich hatte sie schon der einstmals neukantianische, später dann wieder eher jüdisch-theologische Herman Cohen entfaltet (vgl. 'Das Wesen des Judentums', 1907). Für ihn gilt, wie für den sonst eher ungläubigen Romancier und Orgelbauer Hans Henny Jahnn: 'Der Weg zu Gott geht durch die Qual.' HCohen hat auf diesem Feld eine ausdifferenzierte Position entfaltet. 'Die jüdische Frömmigkeit erkennt demgemäß das Leiden als eine Staffel [Stufe] zur Erlösung. Das Leiden ist die Vorbedingung der Erlösung. [...] Das Leiden vollführt und vollbringt Israels Selbsterhaltung. [...] Ohne Leiden keine Erlösung [das ist christlich, also ist das Christentum doch nur eine Sekte des Judentums, seine Fortschreibung]. Der Wert des Menschenlebens liegt ja nicht im Glück, sondern vielmehr im Leiden'. Und, ein Spruch für die Wand aller Schulklassensäle der Republik: 'Alles Unrecht in der Weltgeschichte bildet eine Anklage an die Menschheit. Und so hat das Elend der Juden zu allen Zeiten einen schweren Vorwurf gegen die anderen Völker erhoben.' Man darf auch so sagen: die Erwählung des jüdischen Volkes - im geschichtlichen Rückblick - erscheint geradezu als Bestimmung zum Leiden, als Berufung zum Schmerz, zur Qual eines Opfervolkes.
Bergers Buch ist für sprachlich nicht Versierte, für theologisch nicht Gebildete geschrieben, in schönen großen Lettern gedruckt. Fremdwörter (Epiphanie) werden erklärt, Anmerkungen fehlen gänzlich, ebenso wie ein Literaturverzeichnis. Der Ton ist insgesamt auf verständlich gestimmt. Griffige Formeln sind hier erwünscht: Familiäre Liebe, das bedeutet vor allem praktische Solidarität. Neudeutsche Schlenker suggerieren Modernität: die 'Softievariante Jesu' kennzeichnet die Arbeit von Eugen Drewermann (S. 88). Wer homiletisch Erbauung braucht, mag zu dem Band greifen und darin Trost und Stärkung finden.