Die Minoer

Vieles ist von der minoischen Kultur bekannt, seitdem Arthur Evans zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ruinen von Knossos freilegte, des ältesten und größten minoischen Palastes auf Kreta. Bislang sind außer fünf weiteren Palästen ganze Städte und Dörfer, Villen, Straßen und Häfen, und dazu eine unübersehbare Menge an Fundgut, wie Statuetten, Fresken, Schmuck, Siegel und Keramik, entdeckt worden. Zudem gilt die minoische Kultur als Wiege Europas ' man denke nur an den Mythos von König Minos, dessen Frau Europa von Zeus in Stiergestalt entführt wurde.
Vieles ist bekannt, vertraut, ja ' und doch erschienen uns die Minoer immer als ein rätselhaftes, fast schon mystisches Volk, fehlen doch Selbstzeugnisse ihrer Kultur, keine schriftlichen Hinterlassenschaften darüber sind auf uns gekommen. Zwar besitzen wir zahlreiche beschriftete Siegel und Tontafeln, aber die ältesten Hieroglyphen sind, ebenso wie Linear A, die erste minoische Schreibschrift, bislang nicht entziffert. Linear B, die jüngere Variante, lieferte bisher nur vergleichsweise nüchterne Informationen, wie Magazinbestände oder Tätigkeiten von Handwerkern.
Diese Lücken kann erwartungsgemäß auch das Buch von J. Lesley Fitton, Spezialistin für die griechische Bronzezeit am British Museum in London, nicht füllen. Dennoch bietet ihr Werk eine kurzgefaßte, sehr anschauliche Abhandlung aller wichtigen Aspekte dieser bronzezeitlichen Inselkultur aus dem Zeitraum zwischen ca. 3000 v. Chr. bis um 1200 v. Chr. Zunächst stellt eine ausführliche Zeittafel die komplizierten chronologischen Zusammenhänge zwischen Kreta, dem griechischen Festland, den Kykladen und Ägypten vor. Danach legt die Autorin fest, an wen sich ihr Buch richten soll ' an interessierte Laien, zu Einführung, weniger an Fachpublikum. Daher ist alles auch knapp und nicht üppig illustriert abgefaßt, ein Überblickswerk. Trotzdem ist Fitton wichtig, nicht nur die Gegenstände, sondern die Menschen dahinter vorzustellen, soweit das möglich ist ' ein überaus lobenswerter Ansatz. So geht sie dann auch chronologisch vor, beschreibt die minoische Kultur vor der Palastzeit, zur Zeit der alten und neuen Paläste, und behandelt schließlich die letzte Phase der Palastzeit und das Ende der minoischen Zivilisation. Ein Kapitel über das mythologische Erbe und die Rezeption des minoischen Kreta rundet das Buch ab.
Zentrales Thema Fittons sind die Paläste, deren eigentliche Nutzung immer noch unklar ist. Schon lange ist klar, daß sie auch als riesige Vorrats- und Verteilungszentren sowie möglicherweise auch als Textilmanufakturen genutzt wurden. Aber waren diese riesigen, komplexen Gebäude auch Königssitze ' und wenn ja, wer regierte dort? Waren es Könige, Priester oder sogar Priesterinnen, wie die zahlreichen Frauendarstellungen auf den berühmten Fresken suggerieren. Auch eine Nutzung der Paläste als Tempel wird in Betracht gezogen. Vielleicht vereinten die Paläste auch alle diese Aspekte, um so die minoische Kultur einzigartig zu machen.
Insgesamt bietet dieses Buch einen guten, nützlichen Einstieg in die Thematik und faßt den neuesten Forschungsstand zusammen. Auf wohltuende Weise werden dabei alte, liebgewonnene Meinungen anhand von neueren Forschungsergebnissen zurechtgerückt, wie das von Evans entworfene Bild einer künstlerischen, friedfertigen, matriarchalischen Kultur, das mit den Erkenntnissen einer großen Flotte, die nicht nur aus Handelsschiffen bestand, und vieler Häfen auf Kreta und den umgebenden Inseln korrigiert werden muß.
Hervorzuheben ist auch das ausführliche Register am Buchende. Negativ zu bewerten ist das sehr nüchterne Layout und die Qualität der Abbildungen, die zu einem Großteil nur schwarzweiß sind.