Geistliches Lied und Kirchenlied im 19. Jahrhundert

Studien zur Hymnologie, so charakterisiert sie Irmgard Scheitler in der Einleitung zu den Beiträgen der Tagung 'Geistliches Lied und Kirchenlied im 19. Jahrhundert', ist mehr als Gesangbuch- und Kirchenliedforschung. Die in dieser Epoche festzustellende Verknüpfung mit nationalen Einheitsbestrebungen sind übergreifendes Kernthema der im Band aufgenommenen Artikel.
Die Beiträge beleuchten z.B. die im Zuge philologischer Akribie und musikwissenschaftlicher Genauigkeit betriebene hymnologische Forschung; Protestantismus und Katholizismus haben sich zwischenzeitlich unterschiedlich entwickelt, erstere nehmen für sich Luther als 'Erfinder' des Kirchengesangs in Anspruch, letztere entdecken erst nach und nach ihre 'Altmeister' erneut und beleben sie wieder (vgl. S. 11).
Ausgangspunkt ist die Aufklärungsepoche, die mit ihrem Streben nach Klarheit und Einfachheit pädagogisch neue Maßstäbe setzt. Gesangbücher dieser Prägung bleiben praktisch lange in Gebrauch, obwohl das 19. Jahrhundert mit neuen Tendenzen sie längst überholt hat (vgl. S. 12). Im Stile dieser neuen Zeit entsteht die Idee eines überkonfessionellen Gesangbuches für alle Deutschsprechenden. Spitta, Smend und Reger führen den dialogisierenden Wechsel zwischen Chor und Gemeinde ein und schaffen damit ein bislang wenig genutztes dramaturgisches Element für den Gottesdienst (vgl. S. 13-14). Außerhalb der Kirche findet indes ein Paradigmenwechsel statt: Kirchenmusik im Dienste der Religion wird verstanden als eigenständiger religiöser Akt; 'der Konzertsaal ersetzt die Kirche' (S. 15).
Alle diese Spannungsmotive werden in zwölf Einzelbeiträgen von Autoren verschiedener Wissenschaftsdisziplinen vorgestellt, problematisiert und abschließend bewertet. Geistliches und Kirchenlied werden dem Leser in einer allgemeinverständlichen, sehr gut lesbaren und umfassenden Darstellung präsentiert. Neuere Forschung einzelner Wissenschaftler und Resümees halten sich in etwa die Waage; dadurch kann vermieden werden, dass das anzuzeigende Buch zu stark fachwissenschaftlichen Charakter erhält (und damit nur für Hymnologen ertragreichen Lesestoff böte). Für viele universitäre Disziplinen (Germanistik, Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaft sowie Theologie) ist die Zusammenstellung Scheitlers von Interesse und wird daher einem verhältnismäßig großen Leserkreis empfohlen.