Heinrich Schliemanns Weg nach Troia
Die Geschichte eines Mythomanen

Troia ist mit der Ausstellung 'Traum und Wirklichkeit' und der auch in der Presse beachteten Auseinandersetzung zwischen den Wissenschaftlern Kolb und Korfmann um die seinerzeitige Bedeutung der Stadt wieder einmal en vogue, und das gibt Anlaß, das Leben von Troias Erstausgräber Heinrich Schliemann aufs Neue darzustellen. Flügge weiß, wovon er schreibt, das zeigt nicht nur der zudem über das Biographische hinausgehende bibliographische Nachweis (S. 296-299), sondern die ganze Darstellung. Die ist flott, ja faszinierend, geschrieben, verrät umfassende Kenntnisse und weist Einzelheiten auf, die entbehrlich wären und doch wert sind, genannt zu werden. So ist nur wenigen die 1732 zu London gegründete 'Society of Dilettanti' ein Begriff, bei deren Name nicht der 'Dilettant', sondern der kenntnisreiche Amateur Pate stand (S. 152), und die Möglichkeit, ohne Abitur und Studium sowie sogar in Abwesenheit, aber ordnungsgemäß promoviert zu werden (S. 181), erinnert daran, daß nicht erst heutige Universitätsreformen Außenseitern Pfade gewährten.
Wenn man das Buch dennoch mit gemischten Gefühlen aus der Hand legt, so liegt dies an der Weise, wie der 'Mythomane' (Definition S. 172) in Schliemann und überhaupt die dessen Handeln bestimmende Psyche dargestellt werden. Nicht als ob dazu bei Schliemann kein Anlaß wäre. Seine Jugend muß Narben hinterlassen haben: Das verwerfliche Wesen des Vaters, welches zunächst den Familienalltag prägte und dann zur Entlassung des Vaters aus dem Pfarrdienst führte, der frühe Tod der Mutter. Das hat zwar nicht zu dem durch Schliemann selbst kolportierten Sturz in die Mittellosigkeit geführt, aber offenbar ein Gefühl tiefer Demütigung und ein stetes Bedürfnis nach Rechtfertigung ausgelöst. All das läßt sich vortrefflich mit vielen und insbesondere mit den fragwürdigen Zügen und Verhaltensweisen des höchst erfolgreichen Kaufmanns und Ausgräbers Schliemann in Verbindung setzen. Das ist nicht neu und umfaßt auch Schliemanns Selbstzeugnisse. In seinen Leben und Schriften Trug und Wahrheit voneinander zu scheiden, ist deshalb alles andere als einfach und mitunter unmöglich. Als Erklärung eines letztlich derart erfolgreichen Lebens genügt es aber nicht, Schliemann als 'eine Gestalt wie von E.T.A. Hoffmann' zu zeichnen und immer wieder auf mögliche psychische Momente anzuspielen. Nahezu alles wird in dieser Richtung relativiert - 'Freie Bahn der Fantasie' (S. 209)! Selbst eine Malaria ist psychosomatisch bedingt (S. 129). Ein Mann, der sich aus dem Nichts zu einem der reichsten Männer des Europa seiner Zeit hocharbeitete, animiert zum Begriff 'Glücksritter' (S. 55) und zur Bemerkung: 'Sein Glück bestand darin, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein' (S. 52). Dort standen freilich auch andere, deren Namen nicht der Überlieferung wert wurden. Schliemann war es, dem es konsequent gelang die Gunst des Schicksals zu nutzen. Flügge ist sich dessen durchaus bewußt: 'Man ahnt, er [Schliemann] hätte an jedem Ort der Welt eine Firma gründen können' (S. 125). Die Anspielungen versprechen Erklärungen, die letztlich jedoch weder gegeben werden noch gegeben werden können. Die Geschehnisse lassen sich zudem nicht nur fantasievoll, sondern auch ganz nüchtern sehen: Wer St. Petersburg kennt, wird Schliemanns Schwärmen von dieser Stadt nachempfinden können (z.B. S. 81), und sich doch nicht heimatlos fühlen, nur weil er dort nicht bleiben kann; es bedarf weder Träume noch Traumata und nicht der Vision 'Paris könnte zu Ruinen werden wie einst Troia' (S. 196), um jemanden zittern zu lassen, wenn ein wesentlicher Teil seines Vermögens sich in einer der Beschießung ausgesetzten Stadt befindet, wie es bei Schliemann und der Stadt Paris 1870/1 der Fall gewesen ist.
Schliemanns Leben gerät auf diese Weise vor allem zu 'seiner' Inszenierung einer Legende, deren krönendes Versatzstück Troia ist, zu einer 'endlosen Kette von unglaublichen Glücksfällen' (S.142), in der Schliemann nur das offenbar zweifelhafte Verdienst des packenden Zugriffs im rechten Augenblick zukommt. Das Bedauern ist spürbar, daß andere Troias Lokalität identifizierten, während Schliemann der Erfolg gelang, die Stadt auszugraben. Machte wirklich nur der Zufall Schliemann - neben anderem - reich und zum erblichen russischen Ehrenbürger sowie zum Ausgräber von Mykene und Troia auf eigene Kosten? Ein Zeitgenosse Schliemanns, Graf Helmut von Moltke, hat solcher Kausalität eine allgemeingültige Absage erteilt: 'Glück hat auf die Dauer meist doch wohl nur der Tüchtige!' Vielleicht haben Schliemann die Götter selbst die Gabe des kairós gewährt, des 'rechten Augenblicks', aber dessen konsequente Ausnutzung verdient ungeachtet aller nötigen Abstriche festgehalten zu werden.