Der englische Roman von Joseph Conrad bis Graham Greene
Studien zur Wirklichkeitsauffassung und Wirklichkeitsdarstellung in der englischen Erzählkunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Mit diesem vorzüglichen Band liefert der Freiburger Emeritus Willi Erzgräber eine etwas 'andere' Geschichte des englischen Romans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht die Beschreibung einzelner Dekaden steht im Vordergrund, sondern anhand von neun Interpretationskapiteln zu Werken von Joseph Conrad, James Joyce, Virginia Woolf, E.M. Forster, D.H. Lawrence, Aldous Huxley, Evelyn Waugh, George Orwell und Graham Greene wird die thematische und formale Entwicklung der englischen Erzählkunst von der spätviktorianischen Ära und beginnenden Moderne bis zu den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges nachgezeichnet. Kohärenzstiftend wirkt dabei vor allem die gemeinsame Ausrichtung der Kapitel auf die im Untertitel des Bandes zum Ausdruck kommende Frage nach der spezifischen Wirklichkeitsauffassung und Wirklichkeitsdarstellung der einzelnen Autoren, deren Romane 'jeweils als Antworten [...] auf eine neue Erlebnissituation, auf neue Einsichten in die Lebenswirklichkeit, auf veränderte Einstellungen zur Absicht, die Lebenswirklichkeit zu bearbeiten' (S. 8), verstanden werden. So fungiert der Roman Erzgräber zufolge z. B. bei Virginia Woolf 'als Instrument der Wirklichkeitsentdeckung' (S. 125), während bei Aldous Huxley 'Satire und Didaxis in der Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit' (S. 275) im Mittelpunkt stehen und in den Romanen George Orwells '[d]er gescheiterte Ausbruch aus der Wirklichkeit' S. 366) als eines der Hauptthemen zu verzeichnen ist.
Die Fülle der durchweg äußerst subtilen und aufschlußreichen Beobachtungen zu den genannten Autoren und ihren Werken auf knappem Raum wiederzugeben, ist ein unmögliches Unterfangen. Nur so viel sei hervorgehoben: Der Verfasser versteht es ausgezeichnet, nicht nur den Besonderheiten des Stils jedes einzelnen Autors und der kulturgeschichtlichen Bedingtheit neuer Erzählformen gerecht zu werden (vgl. z. B. die Feststellung auf S. 13, daß Joseph Conrad die 'point-of-view technique' von Henry James übernommen habe, 'die als Korrelat zu Nietzsches Weltsicht' gedeutet werden dürfe), sondern darüber hinaus auch übergreifende epochenspezifische Merkmale - wie die 'merkliche Zurücknahme des auktorialen Erzählerstandpunkts' (S. 19) - sowie literaturgeschichtliche Zusammenhänge in Form von zahlreichen Bezügen zu literarischen Vorgängern wie Henry Fielding, Jane Austen, Charles Dickens und George Eliot herzustellen. Es ist eines der großen Verdienste dieser Studie, das produktive Zusammenspiel von Tradition und Transformation in der Entwicklung des englischen Romans herauszuarbeiten. Dessen Geschichte auf dem Weg zur Moderne zeichnet sich nämlich keineswegs durch einen radikalen Bruch mit dem Viktorianismus aus, wie Erzgräber überzeugend darlegt: Die vorgestellten Autoren überschreiten zwar einerseits in ihren Werken immer wieder die Grenzen des Realismus; andererseits bleiben sie auf vielfältige Weise traditionellen Darstellungsverfahren verhaftet. Da sich dieses Zusammenspiel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederfindet, sind nach Meinung des Verfassers die besten erzählerischen Leistungen in der englischen Romanliteratur auch dieser Zeit 'aus der kreativen Verarbeitung der Spannungen hervorgegangen, die sich aus dem Neben- und Miteinander der traditionell realistisch-mimetischen und der modern experimentellen Wirklichkeitsdarstellung ergeben' (S. 455).
Neben so viel Lob bleibt kaum Platz für Kritik. Einen Wermutstropfen gibt es dennoch: Innerhalb des mehrere Jahrzehnte umfassenden Ausschnitts aus der Geschichte des englischen Romans, den der vorliegende Band erfaßt, findet nur eine einzige Autorin Berücksichtigung. Auf diese Weise entsteht fälschlicherweise der Eindruck, daß es neben Virginia Woolf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine bedeutenden schreibenden Frauen gegeben habe. Daß dies keineswegs der Fall ist, wird etwa an den Werken von Autorinnen wie Elizabeth Bowen, Radclyffe Hall, Rosamond Lehmann, Jean Rhys, Dorothy Richardson, Vita Sackville-West, May Sinclair, Stevie Smith und Rebecca West deutlich, die durch ihre jeweilige, spezifisch weibliche Sicht und Deutung der Wirklichkeit sicherlich einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des englischen Romans geleistet haben, auf die in Erzgräbers Studie aber nicht einmal verwiesen wird.
Dies kann jedoch den großen Nutzen dieses sehr gut lesbaren Bandes keineswegs schmälern. Hier kommen nicht nur Leserinnen und Leser auf ihre Kosten, die sich einen Überblick über eine wichtige Phase der Entwicklung des englischen Romans verschaffen wollen, sondern auch solche, die gezielt Informationen zu einem bestimmten Autor suchen. Dazu tragen auch das umfangreiche Personen- und Titelregister sowie die Auswahlbibliographien zu den behandelten Autoren am Ende des Bandes bei. Kurzum: uneingeschränkt empfehlenswert!