Finis Amoris
Ende, Gefährdung und Wandel von Liebe im hochmittelalterlichen deutschen Roman

Das hohe Mittelalter hat die Liebe, wenn auch nicht gerade, wie gerne überspitzt behauptet wird, entdeckt, so im Zuge der Entdeckung der Subjektivität doch in eigener intensiver Form ausgestaltet - damit auch ihre stete Gefährdung und die Sehnsucht, das 'Liebesgedächtnis' (S. 38). In der 'nachgerade sensationelle[n] Konzeption des mittelalterlichen Dichters' (S. 40) sind es Visualität und Gedächtnis, die den Fortbestand der Liebe sichern. Außerdem: Die gängigen Gleichungen gehend = männlich, bleibend = weiblich sind Klischee und in den Texten leicht zu widerlegen, zumal wenn - was ja dringend geboten ist - nicht nur der ritterliche Kampf oder politisches Tun als 'Handlung' begriffen werden, sondern auch Reden und Schweigen. Ohne die Frauen in den großen Romanen wären die Männer nicht das geworden, was sie schließlich wurden; das steht außer Frage.
Über den Anfang der Liebe in den großen Romanen des Mittelalters ist viel geschrieben worden - wann, wo, wie und warum; das Ende (finis) hat sich nun Fritsch-Rößler vorgenommen. Penibel geht sie - jeweils auch in deren altfranzösischen 'Vorlagen' - Erec, Iwein, Parzival und Versionen der Tristan-Geschichte durch, angeregt von Rüdiger Schnells Causa amoris (Bern u. a. 1985) und diese gleichsam gegenläufig neu aufrollend. Zahlreiche 'Beziehungen' kommen hinsichtlich ihres Endes, sei dieses faktisch, sei es nur gefühlsmäßig erreicht, in den Blick: 'Wer immer sich der männlichen oder weiblichen Hauptfigur im Verlauf ihres literarischen Lebens in den Weg stellt und im entferntesten mit Minne, gleich welcher Couleur, zu tun haben könnte, wird berücksichtigt' (S. 13). Das ist ein sehr weites auf den Begriff des finis bezogenes Feld, vielleicht zu weit, um immer überzeugend zu tragen. Die Beziehungen der Geschlechter wird in X- und Y-Grafen veranschaulicht, wobei Y die Begegnung zwischen Mann und Frau sowie deren (erste und einzige) Beziehung bedeutet, X deren nur zeitweiliges Beieinanderbleiben. Kettenbildung ist möglich, Y an X, X an X, Y an zwei, drei oder mehr X, auch nur eine Vielzahl von Xen - die Kette wäre vom Erzähler ad libitum zu verlängern. Aber: Erec, Iwein und Parzival folgen - dies wird subtil nachzuweisen versucht - alle dem XXXY-Schema, die Liebesbeziehungen von Held und Heldin werden dreifach variiert erlebt. Damit ist zugleich die (epochentranszendente) Strukturform für den Roman überhaupt gefunden. Epochenspezifisch ist dagegen die je inhaltliche Füllung der Struktur.
Zahlreiche feine, in jedem Fall bedenkenswerte Detailbeobachtungen, auf die hier nicht näher einzugehen ist, führen zur Konstruktion der XXXY-Struktur. Für den Erec wird sie dadurch herstellbar, daß die beiden ehewütigen Grafen des zweiten Cursus als Substitute Erecs und Enite als Geschiedene und Quasi-Witwe definiert werden. Enite sei auf der Aventiure-Fahrt einer Situation ausgesetzt, 'die ganz der der von ihren Männern verlassenen und / oder verwitweten Frauen entspricht' (S. 57). Erec inszeniere im Schweigegebot 'eine Treueprobe aus der Ferne bei gleichzeitiger Anwesenheit' (S. 57), deshalb muß Enite vorausreiten, damit er sie wenigstens sehen kann. Zugespitzt: 'Erec bestraft sie nicht, er testet sie' (S. 58), und zwar als Verlassene. Er experimentiert mit dem finis amoris. Insofern wäre das Eifersuchtsmotiv, mit dem Chrétien gearbeitet hatte, umgewertet und die patriarchale Sentenz, die Hartmanns Protagonist kolportiert, daß die Frau wie das Gold in der Esse zu läutern sei, widerspruchsfrei in dessen Handeln zu integrieren. - Als 'Hintergrund'-Lektüre wird, insbesondere für die Aventiure Joie de la Cort, nicht die christliche Tradition anempfohlen, von der sich nur 'Anklänge' (S. 104) im Text wiederfänden, sondern Ciceros zur allgemeinen Schullektüre des Mittelalters gehörender Dialog Laelius / De amicitia, in dem neben der Verantwortung des Einzelnen für die res publica u. a. auch ein Beziehungstest gefordert wird, der der Freundschaft / Liebe zwar vorausgehen muß, aber nur in der Liebe gemacht werden kann: Freundschaft / Liebe besteht in der Übereinstimmung, die sich aber erst im Verlauf der Freundschaft zeigt. Die Freundschaftsprobe bedarf dabei keiner konkreten Begründung - was Hartmanns Formulierung 'âne sache' entspräche. Hier wird von Fritsch-Rößler ein überzeugender Vorschlag präsentiert, den Erec neuakzentuiert zu lesen quasi mit ciceronianischen Augen - im übrigen auch in Bezug auf den raffinierten Erzähler Hartmann.
Auch der Iwein wird nicht von der Schuldfrage, sondern von der Frage der Trennungen her aufgeschlüsselt, wobei es diesmal die Frau ist, die 'verläßt', indem sie den Mann 'verstößt' und darüber hinaus 'vergißt' - vielleicht etwas gewaltsam, aber immerhin: Laudine ist das Analogon Erecs. Iweins erstes X bildet natürlich Laudine, das zweite X wird in der Dame von Narison, das dritte in der Burgtochter gesehen. Diese beiden Damen sind jedoch keine 'Stellvertreter' Laudines, im Gegenteil, sie sind Kontrastfiguren, 'die in Iwein die Erinnerung an und die Sehnsucht nach seiner Frau wecken und ihn seine triuwe bestätigen lassen' (S. 156). Durch die Einbeziehung des Kalogrenant, mit dessen Erzählung vom Brunnenabenteuer der Roman beginnt, wird für Laudine und ihren getöteten Mann Askalon eine parallele Struktur entwickelt - ich will das hier im Einzelnen nicht ausführen, zumal der Eindruck entsteht, daß die Autorin etwas zu sehr in ihr XXXY-Schema verliebt ist. Ihre These jedenfalls: Der Iwein ist ein 'Geschlechterrollen umgekehrte[r] ‚Erec‘' (S. 158). Gewichtiger ist vielleicht der erneute Nachweis der ciceronianischen Ethik.
Für den Parzival Wolframs von Eschenbach wird 'ein fein verästelter Bauplan sichtbar [gemacht], der allen Frauenbegegnungen und allen Minnebeziehungen der Haupthelden [Gahmuret, Parzival, Gawan, Feirefiz] zugrundeliegt' (S. 180). Spätestens hier wird denn freilich auch die XX...Y-Analyse in ihrer Tragweite und Erhellungskraft fraglich, die ja nichts anderes ist als eine Abfolge von Findungen und Trennungen, von gelingenden und sich auflösendenen Beziehungen, wobei die Frage des amor variierend gelöst wird, sofern er eben nicht nur auf 'Liebe', wie es der Buchtitel nahelegt, sondern auf 'Beziehung' überhaupt fokussiert ist. Als 'Initial-Struktur' für den Parzival wird die Gahmuret-Geschichte mit einer XXXX-Struktur angesehen. Gahmuret ist in drei Minnebindungen verstrickt, die schwarze Heidenkönigin Belakane, die französische Königin Ampflise und Herzeloyde, die Herrscherin von Anjou, Norgals und Wales; als vierte verlassene Frau wird die Mutter Schoette hinzugenommen. Er wird als der Typus des Wankenden definiert, der, wenn überhaupt, erst in der Ehe mit Herzeloyde zur Ruhe zu kommen scheint. Parzivals weibliche Zuordnungen zur Erfüllung der XXXY-Struktur sind: Herzeloyde, die Mutter, Jeschute, die Herzogin, Liaze, seine Nichte, und Königin Condwiramurs, seine spätere Gattin; Gawans Zuordnungen: Obilot, Antikonie, Bene und Orgeluse, wobei Obilot 'motivisch alle Frauen Parzivals in sich [vereint], einschließlich der Mutter' (S. 253). Für seinen Halbbruder Feirefiz werden - was der Vierzahl der XY-Struktur entgegenkommt - Olimpia und Clauditte zusammengenommen und mit Ampflise parallelisiert; Belakane, die Mutter, wird nicht als Verlassene definiert, so daß Platz bleibt für Secundille. Auch hier wird wieder deutlich, daß in Bezug auf die Qualität der Beziehungen nicht unterschieden wird - alles läuft unter dem doch recht weiten Begriff der 'elementaren Formen der Frauenliebe' (S. 222). Die Parallelen, die zwischen den jeweiligen Damen der einzelnen Strukturen, also zwischen Schoette (Gahmuret), Herzeloyde (Parzival), Obilot (Gawan) und Repanse de Schoye (Feirefiz), den 'Müttern', zwischen Ampflise (Gahmuret), Jeschute (Parzival), Antikonie (Gawan) und Olimpia / Clauditte (Feirefiz) usw. aufgezeigt werden, sind mir nicht immer so einsichtig wie der Autorin. Es werden naturgemäß die passenden Parallelen als 'strukturelle' herausgesucht und die Widersprüche, die vor allem auf qualitativer Ebene liegen, heruntergespielt. Wahrscheinlich darf man dies sub specie strukturae tun, wohl ist mir aber nicht dabei. Wie dem auch sei, es ändert nichts daran, daß die so gefundene XXXY-'Leitlinie' zu zahlreichen subtilen und textnahen, bisherige Forschung korrigierenden Einzelbeobachtungen führt, die eine zukünftige Parzival-Forschung nicht wird missen wollen.
Zahlreiche kluge und erhellende Detailbeobachtungen finden sich auch in den Tristan-Analysen - Béroul, Eilhart, Thomas, Gottfried, Heinrich von Freiberg, Ulrich von Türheim und der Prosa-Tristrant kommen in den Blick. Im Tristanmythos wird nicht die Frage der Trennung, sondern konträr 'der Ausschluß des finis amoris' (S. 294) zum Problem - die causa, der Minnetrank, läßt kein Ende der Liebe zu. Deshalb beginnt die Autorin hier nicht mit der Strukturfrage, sondern stellt die Trank-Wirkung und die damit in Zusammenhang stehende Frage der Erinnerung (memoria) in den Vordergrund, die Eilhart als erster eröffnet. Er überträgt die Zwanghaftigkeit der Bindung vom körperlichen auf den psychischen Bereich. Ulrich, der eher Eilhart als Gottfried folgt, entwickelt eine an der Ehe orientierte Minneauffassung, und die Liebe zwischen Tristan und der blonden Isolde, so eine der Thesen von Fritsch-Rößler, endet vor dem Tod. Gottfried, gegenüber Thomas, fokussiert die Liebe auf das Leid, indem er die memoria zum Ideal erhebt, eine 'durchgehende ‚Memorialisierung‘ des Themas (Liebe), des Stoffes (im Vergleich zu den vorherigen ‚Tristan‘-Versionen), der Literaturtheorie (Poetik der jungen Gattung ‚Roman‘)' (S. 349) vornimmt. 'Das finis amoris-Problem wird verknüpft mit, ja wird selber zu einer poetologischen Fragestellung' (S. 360). Hinsichtlich der Struktur setzt Gottfried 'Isolde, metaphorisch gesprochen wie eine Spinne in ein feingesponnenes Netz mit fünf Ecken' (S. 378): den irischen Truchsess, Tristan, Marke, Gandin und Marjodo, den Truchsess Markes. Weil Marke für das Werbe- und Minneverhalten keine Rolle spielt, bleibt die Viererstruktur gewahrt; im übrigen parallel dazu auch für Tristan, dem mit Isolde, Gilans Schwester, Kaedins Schwester und Isolde Weißhand gleichfalls vier Frauen zugeordnet werden können. Wie gesagt: In der Bewunderung für die Konstruktion solcher Schemata und ihren Sinn bin ich zurückhaltend, während etwa der Hinweis auf Lukans Pharsalia als 'Hintergrund' für die enge Verbindung von minne und memoria ein sehr viel schönerer Fund ist, wobei man gerade hier von der Autorin gerne an die bekannte Etymologie des Wortes 'minne' erinnert worden wäre. Bei Heinrich von Freiberg hat Ysot eine Alternative, das Eheglück mit Marke. Dieser bindet sich über das Kloster und dessen Stiftungsmodus in die memoria und damit auch in die minne ein. Hatte Gottfried eine 'eucharistisch-liturgische' memoria entworfen, so Heinrich eine 'monastisch-liturgische' (S. 403). Der unbekannte Autor des Tristrant hebt den finis amoris durch die Möglichkeit auf, den Liebesbeginn permanent zu erneuern.
Abschließend nimmt die Untersuchung einiges zu minne und memoria im vergilschen Aeneas, dem Roman d'Eneas und Heinrichs von Veldeke Eneide in den Blick, doch auch damit noch nicht genug: Ein Ausblick auf Goethes Wahlverwandtschaften und Mörikes Maler Nolten folgen noch. Gesamturteil in Stichworten: Innovativ, ideenreich, didaktisch schön aufbereitet, sensibel im Umgang mit den Texten, beziehungsverliebt mit der Tendenz zur 'unendlichen Geschichte' - gut geschrieben.