Nach der Verurteilung von 1277
Philosophie und Theologie an der Universität von Paris ...

1277 - das Jahr, in dem der Bischof von Paris, Etienne Tempier, 219 Sätze philosophischen Inhalts zu einer Irrtumsliste zusammenstellte und verurteilte. Die Adressaten des Dekrets waren vornehmlich - nicht ausschließlich - Philosophen (besonders Siger von Brabant und Boethius von Dacien), die an Aristoteles und seinen persisch-arabisch-jüdischen Kommentatoren, etwa Avicenna, Averroes, Maimonides, orientierte Theorien vertraten, Theorien, die nach Ansicht der Theologen wegen ihrer philosophisch exzessiven Inhalte eine Gefahr für den christlichen Glauben darstellten und deshalb unter Strafandrohung (Exkommunikation) verboten wurden. Schon vor 1277 fielen philosophische Thesen der Zensur anheim, und das Verdikt von Paris blieb auch nicht das letzte: 7. März 1277 Paris, bereits 18. März 1277 Oxford (ohne direkten Bezug zum Pariser Verurteilungsdekret). Über die Vorgänge in Paris informieren präzis und höchst instruktiv: R. Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 Mars 1277, Louvain/Paris 1977; K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris, Mainz 1989; L. Bianchi, Il vescovo e i filosofi: La condanna parigina del 1277 e l'evoluzione dell'aristotelismo scolastico, Bergamo 1990; D. Piché, La condamnation parisienne de 1277, Paris 1999.
Was aber ereignete sich nach 1277? Dieser Frage ist der vorliegende Band gewidmet. Er ist das Resultat einer mehrjährigen transatlantischen Wissenschaftskooperation unter der Federführung des Medieval Institute of the University of Notre Dame und des Thomas-Instituts der Universität zu Köln. In 35 Beiträgen, denen zahlreiche Texteditionen beigegeben sind, wird über folgende Themenbereiche gehandelt: Intellekt und Erkenntnis; Theologie und Philosophie; Metaphysik in der theologischen Fakultät und bei den Artisten; Naturphilosophie in der Artesfakultät und im theologischen Kontext; Ethik und Moraltheologie; die Verurteilung von 1277 und ihre Nachwirkungen (also über das 13. / 14. Jahrhundert hinaus bis zu Nikolaus von Kues und zur Renaissance).
Der Band als ganzer ist nicht nur ein beredtes Zeugnis äußerst fruchtbarer international angelegter Mittelalterforschung, sondern auch ein einzigartiges Dokument umfassenden Erkenntnisgewinns moderner Mediävistik. Die einzelnen Beiträge sind keine Gelegenheitsprodukte, sondern gehen auf langjährige Forschungen zurück, so daß nicht selten die präsentierten Resultate gängige Vorurteile revidieren, langgehegte Vermutungen zu wissenschaftlich fundierter Gewißheit werden lassen oder sogar mit wissenschaftlich Überraschendem aufwarten. Das Spektrum der Reaktionen auf das Pariser Verurteilungsdekret ist, wie im einzelnen nachgewiesen wird, breit gefächert: Einerseits diente das Dekret als unhintergehbar gültiger Orientierungsmaßstab, andererseits wurde die Widersprüchlichkeit einzelner seiner Thesen aufgezeigt, wurde versucht, gegenteilige Thesen mit denen des Dekrets zu harmonisieren, wurde klargestellt, daß der Geltungsbereich des Dekrets nur ein regional begrenzter sei, wurde schließlich so verfahren, als hätte es das Zensurdokument nie gegeben. Welche Position allerdings etwa Nikolaus von Straßburg in seiner Summa zum Pariser Verurteilungsdekret bezogen hat (vgl. dazu: Nicolaus de Argentina, Summa I; Cod. Vat. Lat. 3091, fol. 70 ab), erfährt man nicht; der vorliegende Band ist somit nicht nur als Präsentation von Forschungsresultaten anzusehen, sondern zugleich auch als unverzichtbares Instrument für künftige Untersuchungen.
Höchste Anerkennung verdient prinzipiell auch die redaktionelle Bearbeitung des Bandes; eine abschließende - noch gründlichere - Durchsicht hätte jedoch Vermeidbares vermeiden [vgl. die redundante Iteration auf S. 213: 'The reply ... 1273). The reply ... 1273).'], hätte Unklarheiten beseitigen (vgl. S. 129, Anm. 11: 'Ich'; Verfasser des Beitrags sind aber zwei Autoren), hätte zahlreiche Regelverstöße bei der Silbentrennung in den lateinischen Texteditionen beheben können (vgl. etwa S. 472, Z. 13: 'mater-iae').
Gleichwohl darf der wissenschaftlich bestechende Sammelband mit seiner für die Erforschung der mittelalterlichen Philosophie und Theologie höchst bedeutsamen Fragestellung zur Lektüre (besser freilich: zu intensivem Studium) sehr empfohlen werden, und zwar allen an der Mediävistik Interessierten, auch sprachlich versierten (also des Lateinischen, Englischen und Französischen mächtigen) Laien.